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Der Preis des Lebens

Der Preis des Lebens

Titel: Der Preis des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Endres
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Linken einen kurzen Speer mit einer scharfen Feuersteinspitze. Das Hoppeln und die Sätze des Kaninchens glich der berittene Waldläufer durch geschicktes Vor- und Zurückbeugen im Sattel aus.
Lautlos bewegten sich Reiter und Kaninchen so durch den ebenso stillen Wald. Ab und an mussten sie einen Umweg in Kauf nehmen, wenn eine Bodenmulde sich als unüberwindbar entpuppte oder das Kaninchen trotz der fünf Monde dauernden Abrichtung einfach stehen blieb und das Weiterlaufen verweigerte. Pa'orco blieb in einem solchen Fall nichts anderes übrig, als darauf zu warten, dass sein Reittier seinen Weg freiwillig fortsetzte. Meistens sah er kurz darauf in einiger Entfernung einen Fuchs oder Dachs durchs Unterholz schleichen und fühlte sich einmal mehr bestätigt, sich auf Chisputas Instinkte verlassen und das Kaninchen nicht mit Gewalt zum Weiterhoppeln gedrängt zu haben.
Ansonsten rauschte der Wald an Pa'orco vorbei, wurde zu einer schnellen, schaukelnden Abfolge von Grün und Braun.
Nach gut drei Stunden und diversen Pausen an Pfützen oder Flecken mit saftigem Löwenzahn zupfte Pa'orco bestimmt an den Zügeln. Gehorsam kam Chisputa zum Stehen. Seine langen Ohren drehten sich aufmerksam in alle Richtungen, die kleine, dunkle Fellnase zuckte nervös. Pa'orco schwang sich in der Zwischenzeit behände vom Rücken seines Reittiers und legte eine graue Hand auf die Flanke seines pelzigen Gefährten. Chisputa schien sich unter der sanften Berührung der rauen Finger zu entspannen.
Pa'orcos geschulter Blick strich über seine Umgebung.
Dunkle Pilze, die ihm bis zum Hals reichten, verströmten einen würzigen, leicht fauligen Geruch; Rindenstücke, Moos und gefallenes, vom Morgennebel angefeuchtetes Laub sandten weitere Geruchsspeerspitzen aus Moder und Fäulnis aus. Doch auch die Frische eines neuen Tages lag unter all diesen markanten Gerüchen des Waldes in der Luft.
Pa'orco machte sich wieder auf den Weg. Chisputa folgte ihm mit kurzen Sätzen, wenn auch mit spürbarem Widerwillen und nur unter gelegentlichem Ziehen an den Zügeln.
Bald schon zeichnete sich der Waldboden dadurch aus, dass immer mehr Steine zwischen Laubhaufen und Mooskissen hervorlugten. Schließlich gelangten Pa'orco und sein langohriger Begleiter an den Waldrand, wo noch mehr Steine im Torf lagen. Die graue Spur führte aus dem Wald auf eine freie Fläche, vorbei an einigen gelblichen Grasbüscheln ...
Und direkt zum Heiligtum der Göttin.
Pa'orco blieb am Rand der kleinen Lichtung stehen und beobachtete, wie die Sonnenstrahlen die Dunst- und Nebelschwaden wie Speere aus fahlem Licht durchbohrten und ein Spinnennetz zwischen zwei Ästen in der Sonne glitzerte.
Hinter all dem lugte das Heiligtum wie ein steinerner Leviathan hervor.
Der Waldläufer lächelte grimmig und schluckte seine Furcht hinab, als er Chisputas Zügel mit leicht zitternden Fingern an einen kleinen Schössling band. Anschließend trat der Kobold lautlos aus dem Unterholz auf die Lichtung vor dem Tempel.
Pa'orco ging ein Dutzend Schritte, dann blieb er stehen. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf seine Atmung, so wie der Schamane es ihn gelehrt hatte. Es gefiel ihm zwar nicht, seine anderen Sinne bewusst so zu vernachlässigen und damit seine Ausbildung zum Waldläufer zu verraten – doch er wusste, dass er es für den Stamm tat, und so fügte er sich und ließ das Ein- und Ausatmen sein Denken fluten.
Shhhhhhhhhsch. Minuten verstrichen. Die Geräusche des Waldes hinter Pa'orco wurden immer leiser und rückten immer weiter in den Hintergrund, bis der Kobold nur noch das Schlagen seines eigenen Herzens und das Geräusch seiner Atmung wahrnahm.
Nun war er frei, wie Nirga'lo sagen würde.
Frei, um sich ehrfurchtsvoll dem Tempel zu nähern.
Vorsichtig setzte der Kobold sich in Bewegung. Er spürte die von Wind und Wetter geschliffenen Kanten der Steine unter seinen nackten Fußsohlen hinweg gleiten. Es war ein angenehmer Schmerz, der ihm mit jedem Schritt bewusst machte, wie groß das Privileg war, von allen Kriegern des Stammes ausgewählt worden zu sein, um zur Göttin zu sprechen.
Der Eingang des Heiligtums klaffte wie das Maul eines großen Bären und ragte bedrohlich vor Pa'orco auf.
Mit einiger Mühe kletterte der Waldläufer über die Felsen und Gesteinsbrocken unmittelbar vor dem Eingang nach oben, bis er im Schatten der Höhlendecke stand.
Er atmete ein letztes Mal tief durch und trat ein.
»Singalo?«, rief er vorsichtig, unterwürfig.
Aus dem Inneren des Tempels

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