Der Preis -Thriller (German Edition)
Stimme hallte in Milenas Hirn wieder.
Über der Tankstelle hatte irgendwer ein auffallendes rotes Spruchband befestigt. In all dem tristen Betongrau um sie herum , bildete es den einzigen Farbfleck. Auf eine irrationale Art war sie sicher, dass man es dort einzig für sie angebracht hatte. Die Maximen der Revolution waren in weißer Farbe darauf gedruckt: L iberté , Ègalité, F raternité .
Der weiße, geflieste Nebenraum. Das Pissoir. Dieser Hurenmantel. Die aufgelassene Tankstelle und jenes Spruchband, das waren keine Zufälle, sondern ausgeklügelte zusätzliche Demütigungen und Einschüchterungsversuche ihrer Entführer. Ein neuer heftiger Schlag in ihr Gesicht.
Auf der Hochstraße näherte sich das Brummen von schweren Lastwagen.
Milena sah auf: fünf, sechs – sieben oder acht - giftgrüne Müllwagen.
Die sind auf dem Weg in die Innenstadt, meinte sie. Und erkannte, da ss es früher Morgen sein musste. I rgendwann zwischen drei Uhr dreißig und fünf. Denn das war die Zeit , zu der die Pariser Müllabfuhr gewöhnlich ausrückte.
„Wir beobachten Dich“, erklang diese blecherne Diktiergerät-Stimme wieder in ihrem Kopf.
Milena würgte unter Krämpfen grünlich ätzenden Schleim hervor, der aus ihrem Mund über die glatte schwarze Haut des Mantels auf den Asphalt herab tropfte.
12 .
Milena stieß auf eine Telefonzelle. Eine der wen igen, die nicht von Junkies auf der Suche nach Kleingeld oder Randalierern zerstört worden waren.
Sie rief ein Taxi.
Der schwarze Taxifahrer stellte ihr keine Fragen , als sie auf den Rücksitz sprang und ihm flüsternd die Adresse ihrer Wohnung nannte. Er musste schon Seltsameres gesehen haben , als eine totenbleiche Frau, die ohne Schuhe und in einem bekotzten Regenmantel gegen vier Uhr mo rgens in einer der Vorstädte sein Taxi be stieg.
In ihrem Appartement angekommen , warf Milena den Plastikmantel von sich, um dann unter ihrer Dusche zu verschwinden, wo sie sich auf den Boden hockte, die Arme um die Knie schlang und sich solange von dem heißen Wasserstrahl berieseln ließ bis das der Boilerinhalt erschöpft war und nur noch kaltes Wasser über sie hinwegströmte.
Sie wusste immer noch nicht , welcher Tag heute war oder o b sie im Büro erwartet wurde.
Vor allem aber wusste sie jetzt noch weniger als je zuvor, was ihre Entführung zu bedeuten gehabt hatte. Man hatte sie am Leben gelassen. Und es waren wohl auch keinerlei Lösegeldforderungen erhoben worden. Sowieso – an wen hätten die ergehen sollen? Es gab doch niemanden, der für Milenas Freilassung gezahlt hätte. Keine Familie, keine Verwandtschaft oder enge Freunde, denen ihre Freiheit viel Geld wert gewesen wäre.
Doch niemand zog doch solch eine Entführung durch ohne sich davon nicht irgendeinen Vorteil zu versprechen. Was versprach man sich davon, irgendeine ganz gewöhnliche junge Frau zu entführen, zu foltern, zu demütigen und sie dann einfach wieder ohne irgendeine Erklärung in die Welt zurück zu werfen?
„Wir beobachten dich.“
Zweifellos.
Nur fragte sich: T at man es nur , um sicher zu gehen, dass Milena nicht doch noch zu r Polizei ging? Oder steckte mehr dahinter? Und zwar möglicherweise sogar Furchtbareres als das, was sie bislang durchgemacht hatte. Doch was hätte furchtbarer sein sollen, als dies?
Milena sah einen schemenhaften Schatten in dem von Wasserdampf beschlagenen Spiegel über ihrem Waschbecken.
Sie wischte den S piegel frei und betrachtete lange ihr Gesicht darin.
Dieses Gesicht hätte sich verändern müssen, jetzt , wo sich für Milena die ganze Welt geändert hatte. Aber abgesehen davon, dass es bleicher wirkte , als gewöhnlich und verschlossener, deutete darin nichts darauf hin, dass Milena in den l etzten Tagen durch die Hölle gegangen war.
Einige erschreckende Fragen tauchten in Milena auf. Fragen, die sie sich nie zuvor hatte stellen müssen. Eine davon und vielleicht sogar die wichtigste lautete: Was war der Mensch? Was machte Menschen wirklich aus, wenn bereits ein paar Stunden in einem schall dichten Raum, eine Kamera, zwei Spiegel und einige Fesseln schon genügten, um ihn an den Rand seiner geistigen und physischen Kräfte zu führen?
Waren die Menschen – war sie selbst – letztlich nicht viel mehr , als ein verzerrter Schemen in Nebel und Licht der großen Städte. Nein, das hätte sie nicht akzeptieren können. Die Menschen, sie selbst, mussten mehr sein, als das. Selbst wenn kein Raubtier, kein Virus oder Insekt , je derart
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