Der Prinz von Atrithau
erfüllt! Binnen Tagen hatte das Gebiet der Drei Meere die gleichen Schreckenszüge angenommen wie die Welt, die ihn Nacht für Nacht in schrecklichen Alpträumen heimsuchte. Und doch sagte er nichts! Warum? Achamian hatte beobachtet, dass manche Menschen sich schlicht weigern, Dinge wie Krankheit oder Untreue wahrzunehmen – als bräuchten Tatsachen unsere Anerkennung, um real zu werden! Aber handelte er jetzt nicht genauso? Glaubte er etwa, wenn er über Kellhus schwiege, wäre der Dûnyain weniger wirklich? Wollte er die Apokalypse allen Ernstes dadurch verhindern, dass er die Augen schloss?
Das alles war zu viel. Zu viel. Die Mandati mussten einfach davon erfahren – ohne Rücksicht auf die Folgen.
Ich muss sie informieren… Heute Nacht noch.
»Xinemus hat gesagt, ich finde dich beim Tross«, kam eine vertraute Stimme von hinten.
»Ach ja?«, fragte Achamian und staunte über seinen lässigen Ton.
Kellhus lächelte zu ihm herab. »Er meinte, du stapfst lieber durch frischen Kot als durch alten.«
Achamian zuckte die Achseln und tat sein Möglichstes, um die drückenden Sorgen aus seiner Miene zu vertreiben und seine Züge durch und durch heiter wirken zu lassen. »Das hält die Zehen warm… Wo ist denn dein Freund, der Scylvendi?«
»Der reitet mit Proyas und Ingiaban.«
»Ach so. Und deshalb hast du dich entschlossen, dich unters gemeine Volk zu mischen?« Er sah kurz auf die Sandalen des Mannes aus dem Norden. »Und zwar so konsequent, dass du wie unsereiner zu Fuß unterwegs bist.« Adlige marschierten nicht, sie ritten. Kellhus war ein Prinz, obwohl er es anderen – genau wie Xinemus – leicht machte, seinen Rang zu vergessen.
Der Dûnyain blinzelte. »Mein Hintern hat mich lange genug getragen – zur Abwechslung will ich ihn jetzt mal schleppen.«
Achamian lachte und fühlte sich, als hätte er lange die Luft angehalten und könnte endlich ausatmen. Seit ihrem ersten Abend vor den Mauern von Momemn gab Kellhus ihm immer wieder das Gefühl, endlich durchatmen zu können. Als er Xinemus davon erzählte, meinte der Marschall nur: »Dieses Gefühl wird dir früher oder später schon noch vergehen.«
»Außerdem«, fuhr Kellhus fort, »hast du mir Unterricht versprochen.«
»Ach ja?«
»Ja.«
Der Dûnyain griff nach dem Seil, das vom einfachen Zaumzeug des Maultiers baumelte. Achamian sah ihn verblüfft an. »Was machst du da?«
»Ich bin dein Schüler«, sagte Kellhus und prüfte, ob das Gepäck fest auf dem Rücken des Tiers verzurrt war. »Bestimmt hast auch du früher den Maulesel deines Lehrmeisters geführt.«
Achamian reagierte mit einem skeptischen Lächeln.
Kellhus strich dem Tier über die Mähne. »Wie heißt es?«, wollte er wissen.
Seltsam, aber die Banalität dieser Frage erschreckte Achamian tief. Keinen hatte das je interessiert – nicht mal Xinemus.
Der Dûnyain runzelte ob seines Zögerns die Stirn. »Was liegt dir auf der Seele, Achamian?«
Du…
Der Hexenmeister schaute weg und ließ den Blick über die vorbeiziehenden Soldaten gleiten. Die Ohren brannten und klangen ihm zugleich. Er liest mich wie eine Schriftrolle.
»Ist mir das so leicht anzusehen?«, fragte er.
»Ja, aber das macht doch nichts.«
»Und ob«, sagte Achamian, blinzelte Tränen aus den Augen und wandte sich Kellhus erneut zu. Jetzt weine ich auch noch! schrie es verzweifelt in ihm.
»Ajencis«, fuhr er fort, »hat mal geschrieben, alle Menschen seien Betrüger. Die Weisen würden nur andere zum Narren halten, die Dummköpfe hingegen nur sich selbst täuschen. Und einige wenige betrügen sich und andere und sind dazu berufen, über ihre Mitmenschen zu herrschen. Doch was ist mit Leuten wie mir, Kellhus? Mit Menschen, die weder sich noch andere betrügen?«
Und ich will ein Kundschafter sein ?
Der Dûnyain zuckte die Achseln. »Vielleicht sind solche Leute dümmer als die Dummköpfe und doch klüger als die Weisen.«
»Ja, vielleicht«, entgegnete Achamian und gab sich alle Mühe, nachdenklich zu wirken.
»Also – was liegt dir auf der Seele?«
Du…
»Tagesanbruch«, sagte Achamian und kraulte seinem Maulesel die Schnauze. »Er heißt Tagesanbruch.«
Die Mandati verbanden mit diesem Namen reines Glück.
Zu unterrichten hatte Achamian stets beflügelt. Wie schwarzer Tee aus Nilnamesh jagte es ihm mitunter Schauer über den Rücken und versetzte seine Seele in starke Erregung. Zum Ersten natürlich aus schlichtem Wissensstolz, also, weil er weiter sah als andere. Zum Zweiten, weil es
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