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Der Prinz von Atrithau

Der Prinz von Atrithau

Titel: Der Prinz von Atrithau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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herrlich war, junge Leute große Augen machen und Begreifen in ihrer Miene aufstrahlen zu sehen. Lehrer zu sein hieß, wieder Schüler zu werden und den Rausch der Erkenntnis aufs Neue zu durchleben, hieß zugleich aber auch, ein Prophet zu sein, der die Welt bis auf die Grundmauern sezierte. Lehrer kitzelten nicht einfach Einsichten aus ignoranten Schülern heraus, sondern verlangten von ihnen, die Augen zu öffnen.
    Und zum Dritten gab es – als Gegenstück zum pädagogischen Eros – ein naives Vertrauen, dessen Unbedingtheit Achamian immer wieder erschreckte: den Wahnsinn nämlich, einen anderen zu bitten: »Beurteile mich…«
    Lehrer zu sein hieß, Vater zu sein.
    Doch nichts von alledem traf zu, wenn es darum ging, Kellhus zu unterrichten. Während der folgenden Tage, in denen das Heer aus Conriya immer weiter gen Süden marschierte, gingen sie nebeneinander her und diskutierten alles Erdenkliche – von der Flora und Fauna des Gebiets der Drei Meere bis zu den Philosophen, Dichtern und Königen der näheren und ferneren Vergangenheit. Statt einem Lehrplan zu folgen, was angesichts der Umstände unmöglich war, übernahm Achamian die Methode des Ajencis, ließ Kellhus seiner Neugier frönen, antwortete einfach auf seine Fragen und erzählte Geschichten.
    Die Fragen von Kellhus jedoch waren mehr als aufgeweckt: Sie waren so scharfsinnig, dass Achamians Respekt vor dem Intellekt des Dûnyain sich bald in Ehrfurcht verwandelte. Ob in Politik, Philosophie oder Poesie – der Prinz traf untrüglich den Kern der Sache. Als Achamian die Ansichten von Ingoswitu – dem großen Denker der Kûniüri – dargelegt hatte, entwickelte Kellhus nach einigen ergänzenden Fragen eine Kritik dieser Ansichten, die jener Kritik entsprach, die Ajencis dem Werk des Ingoswitu hatte angedeihen lassen. Und das, obwohl der Dûnyain behauptete, Ajencis – den alten Denker aus Kyranae – nie gelesen zu haben! Als Achamian das Chaos beschrieb, das Ende des dritten Jahrtausends im Ceneischen Reich geherrscht hatte, bedrängte Kellhus ihn mit Fragen zu Handel, Währung und Sozialstruktur jenes Reichs, die der Hexenmeister oft nicht beantworten konnte. Binnen Sekunden hatte der Dûnyain dann Erklärungen und Interpretationen parat, die mit den klügsten Analysen Schritt halten konnten, die Achamian gelesen hatte.
    »Wie ist das bloß möglich?«, platzte er einmal heraus.
    »Was denn?«, fragte Kellhus.
    »Dass du all diese Dinge… so einfach durchschaust? Dass du dich selbst in Gebieten, über die ich mir jahrelang den Kopf zerbrochen habe, so rasch zu orientieren vermagst?«
    »Ach«, lachte Kellhus, »du klingst schon wie die Lehrer meines Vaters.« Er betrachtete Achamian unterwürfig und zugleich seltsam nachsichtig. Die Sonne ließ sein Haupthaar und seinen Bart golden leuchten. »Ich habe einfach ein Talent dafür«, sagte er. »Mehr ist da nicht.«
    Und was für ein Talent! Der alte Geniebegriff reichte dafür nicht hin. Das Denken von Kellhus hatte eine schwer fassbare Beweglichkeit, der Achamian nie zuvor begegnet war. Und diese Flexibilität ließ den Dûnyain manchmal wie jemanden aus einer anderen Zeit erscheinen.
    Die meisten Menschen waren engstirnig und kümmerten sich nur um das, was ihnen schmeichelte. Fast ausnahmslos hielten sie ihre Abneigungen und Sehnsüchte – egal, wie widersprüchlich sie waren – einfach deshalb für richtig, weil sie ihnen richtig schienen. Fast alle zogen den gewohnten Pfad dem wahren vor. Es war der Ruhm des Schülers, den ausgetretenen Pfad zu verlassen und sich einem Wissen auszusetzen, das bedrücken, ja erschrecken konnte. Noch immer verbrachte Achamian (wie alle Lehrer) ebenso viel Zeit damit, Vorurteile zu bekämpfen wie Wahrheiten zu vermitteln. Alle waren letztlich störrisch.
    Bei Kellhus aber war es anders. Nichts wurde gleich abgetan. Jede Möglichkeit konnte erwogen werden. Seine Seele schien sich in einem nicht hierarchisch zugerichteten Raum zu bewegen. Erkenntnis war nicht eine Frage des Interesses, sondern an einen emphatischen Begriff von Wahrheit gebunden.
    Er stellte all seine Fragen präzise und erforschte mal dieses, mal jenes Thema mit sanfter Unnachgiebigkeit und zugleich so gründlich, dass Achamian bass erstaunt war, wie viel er selbst wusste. Die geduldige Befragung durch Kellhus ließ ihn quasi eine Expedition durch einen weitgehend vergessenen Teil seines Lebens unternehmen. So fragte der Dûnyain beispielsweise nach Memgowa, dem alten Weisen der Zeumi, der bei

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