Der Prinz von Atrithau
Skuthula wurde schwer verwundet vertrieben. Die Männer aus Kyranae und ihre Verbündeten stemmten sich wie Wellenbrecher gegen schwere See und warfen eine Angriffswoge nach der anderen zurück. Einen Moment lang hätten wir beinahe zu jubeln gewagt. Beinahe…«
»Doch dann kam er«, sagte Kellhus.
Achamian nickte schluckend. »Dann kam Mog-Pharau. Was das angeht, sagt der Dichter der Sagas die Wahrheit. Die Scylvendi zogen sich zurück; die Sranc ließen von uns ab; ein enormes Kreischen erhob sich, das zu einem unglaublichen Gebrüll anschwoll; die Bashrags begannen, den Boden mit Hämmern zu bearbeiten. Ein Wirbelsturm zog am Horizont heran und verband Himmel und Erde wie eine schwarze Nabelschnur. Und alle wussten Bescheid, wussten es einfach.
Der Nicht-Gott kam. Unter Donner und Blitz zog Mog-Pharau heran. Die Sranc kreischten. Viele warfen sich zu Boden und rieben sich in ungläubiger Verzweiflung die Augen… Ich erinnere mich, dass ich kaum Luft bekam… Ich stand bei Annaka – bei Anaxophus V. also – im Streitwagen und weiß noch, wie er mich bei den Schultern griff und etwas schrie, das ich nicht verstand… Unsere eingeschirrten Pferde bäumten sich wiehernd auf. Ringsum fielen Männer auf die Knie und hielten sich die Ohren zu. Große Staubwolken rollten über uns weg…«
Dann fragte die Stimme durch die Kehlen von hunderttausend Sranc:
WAS SIEHST DU?
Ich verstehe nicht…
ICH MUSS WISSEN, WAS DU SIEHST!
Tod sehe ich – elenden Tod!
SAG ES MIR!
Nicht einmal du kannst dem entgehen, was du nicht weißt! Nicht einmal du!
WAS SOLL DAS HEISSEN?
»Dass du verdammt bist«, flüsterte Seswatha der Donnerstimme entgegen, packte den König von Kyranae an der Schulter und rief: »Jetzt stich zu, Anaxophus! Jetzt!«
ICH KANN NICHT…
Ein silberner Blitz zuckte über die Berghänge und ließ den Höhenkamm aufleuchten. Dem folgte ein Donnerschlag, der die Ohren zum Klingen brachte. Überall regnete – begleitet vom qualvollen Gejammer der Sranc und anderer Bestien – Geröll vom Himmel.
Der Wirbelsturm flaute ab und verschwand wie der Rauch einer ausgelöschten Kerze.
Seswatha fiel auf die Knie und weinte und schrie in Trauer und Jubel zugleich. Sie hatten das Unmögliche vollbracht! Das Unmögliche! Neben ihm ließ Anaxophus den Heronspeer fallen und legte seinem Freund den Arm um die Schulter.
»Alles in Ordnung, Achamian?«
Achamian? Wer soll das denn sein?
»Komm«, sagte Kellhus. »Steh auf.«
Er spürte die Hände eines Fremden. Wo war Anaxophus?
»Achamian?«
Von neuem. Es geschieht von neuem.
»Ja?«
»Was hat es mit dem Heronspeer auf sich?«
Achamian antwortete nicht. Er brachte es einfach nicht fertig. Stattdessen ging er lange schweigend umher und brütete über den Moment nach, da seine Erzählung ihn überwältigt und er nicht nur sein Selbst verloren hatte, sondern auch aus der Gegenwart gestürzt war. Dann dachte er an Kellhus, der sich ihm dezent zur Seite hielt. Die Niederlage des Nicht-Gottes erwähnten die Mandati häufig, ohne sie freilich ausführlich darzustellen, und Achamian konnte sich nicht erinnern, sie je zuvor erzählt zu haben. Und doch hatte er sie nun leichtfertig vor Kellhus ausgebreitet und von ihm sogar verlangt, sie anzuhören. Warum?
Er beeinflusst mich irgendwie.
Verblüfft ertappte Achamian sich dabei, den Dûnyain mit der Offenheit eines schläfrigen Kindes anzusehen.
Wer bist du?
Kellhus reagierte darauf ohne alle Verlegenheit, und Achamian vermutete, dieses Gefühl sei für ihn schlicht zu unbedeutend. Der Dûnyain lächelte, als sei sein Gegenüber tatsächlich ein unschuldiges Kind und nicht imstande, ihm übelzuwollen. Diese Reaktion erinnerte den Hexenmeister an Inrau, der ihn oft für jemanden gehalten hatte, der er nicht war: für einen guten Menschen nämlich.
Achamian spürte einen Kloß im Hals und sah weg. Muss ich auch dich aufgeben? Einen Schüler, wie ich noch keinen hatte?
Ein paar Soldaten hatten eine Hymne auf den Letzten Propheten angestimmt, und das Gerede und Gelächter ringsum ging in kehligen Gesang über. Kellhus hielt unvermittelt an und kniete sich ins Gras.
»Was soll das?«, fragte Achamian schärfer als ihm lieb war.
»Ich zieh mir die Sandalen aus«, sagte der Prinz von Atrithau. »Komm, lass uns wie die anderen nackten Fußes gehen.«
Nicht singen oder jubeln wie sie. Nur so gehen.
Auch das war – wie Achamian später klar wurde – eine Lehre. Während der Hexenmeister Kellhus unterrichtete, erteilte
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