Der Prinz von Atrithau
Stein auf und musterte den nahen Hang, als suchte er nach einem Vogel oder einem Hasen, den er mit einem Wurf würde töten können. Als er den Kiesel schließlich warf, knallte der Ärmel seines Gewandes wie eine Peitsche. Der Stein pfiff durch die Luft und sprang eine raue Kante entlang. Ein Fels löste sich, zerbarst krachend an den steilen Wänden und ließ jede Menge Schotter, Staub und Geröll zu Tal rutschen. Warnrufe hallten von unten herauf.
»War das Absicht?«, fragte Achamian gepresst.
Kellhus schüttelte den Kopf und sah ihn fragend an. »Aber darauf wolltest du doch hinaus, oder? Das Unvorhergesehene, die Katastrophe folgt unseren Taten auf dem Fuß.«
Achamian war sich nicht sicher, ob er überhaupt auf etwas hinausgewollt hatte, entgegnete aber: »Nicht nur unseren Taten – auch unseren Entscheidungen.« Dabei hatte er das Gefühl, durch den Mund eines Fremden zu sprechen.
»Ja«, gab Kellhus zurück. »Auch unseren Entscheidungen.«
In dieser Nacht bereitete Achamian die Beschwörungsformeln vor, obwohl ihm klar war, dass er kein Wort herausbringen würde. Was maßt du dir da eigentlich an?, fragte er sich eindringlich – du, der du so unbedeutend bist… Kellhus war der Vorbote. Achamian wusste, dass der Schrecken seiner Nächte bald über die Welt hereinbrechen würde. Bald würden die großen Städte Momemn, Carythusal und Aöknyssus in Flammen stehen. Im Traum hatte Achamian sie schon oft brennen sehen. Sie würden untergehen wie ihre alten Schwestern Trysë, Mehtsonc und Myclai. Schreiend und wehklagend würden ihre Bewohner zum rauchverhüllten Himmel sehen… Diese Städte wären die neuen Chiffren des Jammers.
Was maßte er sich da an? Was konnte seine Entscheidung rechtfertigen?
»Wer bist du, Kellhus?«, murmelte er in der einsamen Dunkelheit seines Zelts. »Ich riskiere alles für dich… Alles!« Aber warum?
Wegen seiner Ausstrahlung. Weil von Kellhus etwas ausging, das Achamian warten ließ. Eine Ahnung von Entwicklung. Und wohin? In welche Richtung würde er sich entwickeln? Und reichte das hin? Reichte es wirklich hin, um den Verrat an den Mandati zu rechtfertigen? Um angesichts des drohenden Weltendes va banque zu spielen? Gab es in dieser Situation überhaupt etwas Hinreichendes?
Außer der Wahrheit natürlich. Die Wahrheit reichte ja immer hin, oder?
Er sah mich an und wusste Bescheid. Der Steinwurf war eine weitere Lektion, begriff Achamian nun. Noch ein Hinweis. Aber worauf? Darauf, dass eine Katastrophe folgte, wenn er die falsche Entscheidung traf? Oder darauf, dass es ganz egal war, wofür er sich entschied – die Katastrophe käme ohnehin?
Es schien, als sollten seine Qualen endlos weitergehen.
2. Kapitel
ANSERCA
Durch Pflichterfüllung bewährt sich der Mensch – sie bestimmt, ob er eher den Tieren zuzurechnen ist oder Anteil an der göttlichen Sphäre hat.
Aus den Briefen des Ekyannus
Die letzten Wochen vor einer Schlacht sind seltsam. Ob die Truppen nun aus Conriya, Ce Tydonn oder Ainon kamen, ob es Galeoth, Nansur oder Thunyeri waren oder ob es sich um die Scharlachspitzen handelte: Sie alle marschierten zur Festung Asgilioch, zu den Pforten von Southron, wo das Land der Heiden beginnt. Und obwohl viele an Skauras dachten – den heidnischen Sapatishah, der sich uns entgegenstellen würde –, so war dieser Gedanke doch aus demselben Stoff wie tausend andere abstrakte Sorgen. Man konnte den Krieg noch immer mit dem alltäglichen Leben verwechseln…
Drusas Achamian: Handbuch des Ersten Heiligen Kriegs
PROVINZ ANSERCA, FRÜHSOMMER 4111
Die ersten Tage des Feldzugs waren ein einziges Durcheinander, besonders bei Sonnenuntergang, wenn die Inrithi in die Felder und Hügel schwärmten, um ihr Nachtlager aufzuschlagen. Weil Achamian Xinemus nicht hatte finden können und zu müde war, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, hatte er sein Zelt sogar einige Nächte inmitten Fremder aufgebaut. Je mehr das Heer aus Conriya sich jedoch daran gewöhnte, ein Heer zu sein, desto mehr sorgten Sitten, Gebräuche und Verpflichtungen dafür, dass das Lager jede Nacht etwa die gleiche Form annahm. Bald teilte Achamian Nahrung und Geplänkel nicht nur mit Xinemus und seinen höchsten Offizieren Iryssas, Dinchases und Zenkappa, sondern auch mit Kellhus, Serwë und Cnaiür. Kronprinz Proyas besuchte sie zweimal (das waren schwierige Abende für Achamian), gewöhnlich aber bestellte er Xinemus, Kellhus und Cnaiür in den königlichen
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