Der Prinz von Atrithau
Tempelgewand gehüllt war, das er im Rat stets trug. Der Kommandierende General der Tempelritter verbeugte sich vor den Hohen Herren und räumte ein, nichts über den Verbleib seines Hochmeisters zu wissen. Cnaiür musterte derweil seinen rechten Unterarm, hörte dem Tempelritter aber nicht zu, sondern prägte sich dessen hasserfüllte Stimme ein und beobachtete dabei, wie seine Venen und Narben im Takt seiner sich öffnenden und schließenden Faust Lage und Aussehen veränderten.
Als er blinzelte, sah er das Messer Serwës Kehle schlitzen und leuchtend rotes Blut aus ihrem Hals schießen.
Cnaiür achtete kaum auf die Verfahrensdebatte, die dem Beitrag von Sarcellus folgte und in der es darum ging, ob es rechtmäßig sei, ohne den Vertreter des Tempelvorstehers fortzufahren. Stattdessen beobachtete er Sarcellus, der die Hohen Herren und ihren Streit gar nicht beachtete, sondern mit einem anderen Tempelritter ins Gespräch vertieft war. Die an ein Spinnennetz erinnernden roten Linien verunstalteten sein sinnliches Gesicht noch immer, waren aber nicht mehr so deutlich zu erkennen wie bei dem Treffen mit Proyas und Conphas, wo Cnaiür ihn zuletzt gesehen hatte. Seine Miene schien ruhig, doch seine großen braunen Augen wirkten besorgt und abwesend, als dächte er über Dinge nach, die das Spektakel hier bedeutungslos machten.
Wie hatte der Dûnyain ihn genannt?
Eine Fleisch gewordene Lüge.
Cnaiür hatte seit Tagen nichts Anständiges gegessen und war hungrig, sehr hungrig. Das verlieh allem, was er sah, eine merkwürdige Note, als hätte er behaglichen Gedanken und angenehmen Eindrücken auf immer abgeschworen. Er hatte noch den Geschmack von Pferdeblut auf den Lippen. Einen seltsamen Moment lang fragte er sich, wie das Blut von Sarcellus schmecken mochte. Wie Lügen?
Hatten Lügen überhaupt einen Geschmack?
Seit Serwës Ermordung schien ihm alles verworren, und so sehr er sich auch bemühte, konnte er die Tage nicht von den Nächten trennen. Alles mischte sich mit allem, und alles war verpestet. Und der Dûnyain wollte einfach keine Ruhe geben!
Und heute Morgen hatte er ohne ersichtlichen Grund einfach verstanden. Er hatte sich an das Geheimnis des Kampfs erinnert… Ich hab es ihm erzählt, hab ihm das Geheimnis gezeigt!
Und die rätselhaften Worte, die Kellhus auf der zerstörten Zitadelle gesprochen hatte, waren ihm plötzlich völlig klar.
Die Jagd muss noch nicht zu Ende sein!
Er verstand den Plan des Dûnyain, wenigstens zum Teil… Hätte Proyas ihn doch nur angehört!
Plötzlich verstummte der Streit am Tisch wie das Gemurmel auf den Rängen. Ein erstauntes Schweigen erfüllte den alten Saal, und Cnaiür sah Achamian neben Proyas stehen und die anderen mit der grimmigen Furchtlosigkeit des tief Erschöpften anfunkeln.
»Da meine Anwesenheit euch so beleidigt«, sagte er laut und deutlich, »will ich nicht um den heißen Brei herumreden. Ihr habt einen furchtbaren Fehler begangen, der ungeschehen gemacht werden muss – um des Heiligen Kriegs und der Welt willen.« Er hielt kurz inne, um ihre finster dreinblickenden Gesichter zu taxieren. »Ihr müsst Anasûrimbor Kellhus frei lassen.«
Sofort wurden empörte und vorwurfsvolle Rufe am Tisch und auf den Rängen laut. Cnaiür beobachtete das alles und schien an seinen Platz und in seine martialische Pose gebannt. Offenbar musste er gar nicht mehr mit Proyas reden.
»So hört ihm doch zu!«, donnerte der Prinz von Conriya über das Geschrei hinweg. Von der Wildheit seines Ausbruchs überrascht, schienen alle im Saal den Atem anzuhalten. Cnaiür allerdings war zuvor schon atemlos gewesen.
Er versucht, ihn zu befreien!
Wussten sie also auch vom Plan des Dûnyain?
In den Beratungen des Heiligen Kriegs hatte Proyas immer den nüchternen Gegenpart zur Leidenschaft der anderen Hohen Herren übernommen. Dass er nun so gebrüllt hatte, war bestürzend. Die übrigen Hohen Herren verstummten wie Kinder, die nicht so sehr über eine väterliche Strafe erschrecken als darüber, den Vater dazu gebracht zu haben, sie derart zu bestrafen.
»Das ist keine Farce«, fuhr Proyas fort, »kein Witz, der ärgern oder beleidigen soll. Weit mehr als unser Leben hängt davon ab, welche Entscheidung wir hier und heute treffen. Ich bitte euch, meiner Argumentation zu folgen, wie es jeder tut, der einen Standpunkt verficht. Und ich fordere, dass ihr mir zuhört, bevor ihr eure Entscheidung fällt! Das dürfte euch eigentlich nicht schwerfallen, da alle weisen Männer
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