Der Prinz von Atrithau
unvoreingenommen zuzuhören pflegen.«
Cnaiür ließ den Blick durch den Saal wandern und stellte fest, dass Sarcellus das Ganze so aufmerksam wie alle anderen beobachtete. Er forderte sein Gefolge sogar mit einer wütenden Handbewegung auf, endlich still zu sein.
Der Hexenmeister stand ausgezehrt, ärmlich und in schmutzigen Sachen vor dem Hochadel der Inrithi und wirkte zögerlich, als merkte er erst jetzt, wie fern er seinem Element war. Doch mit seiner Leibesfülle und seiner leidlichen Gesundheit wirkte er wie ein König im Aufzug eines Bettlers. Die Männer des Stoßzahns dagegen schienen Gespenster in der Aufmachung von Königen zu sein.
»Ihr habt gefragt«, rief Achamian, »warum Gott den Heiligen Krieg straft. Welche Krankheit hat uns befallen? Mit welcher Schwachheit des Geistes haben wir Gottes Zorn erweckt? Nun – es gibt viele Krankheiten. Für die Gläubigen sind Ordensmänner wie ich so eine Krankheit. Aber der Tempelvorsteher selbst hat unserer Anwesenheit hier zugestimmt. Also habt ihr anderswo gesucht, den Mann entdeckt, den viele den Kriegerpropheten nennen, und euch gesagt: Vielleicht ist dieser Mann ja ein falscher Prophet? Würde das nicht genügen, den Zorn Gottes auf uns zu ziehen?« Er hielt inne, und Cnaiür sah, dass er hinter geschürzten Lippen schluckte. »Ich bin nicht gekommen, um euch zu sagen, ob Prinz Kellhus wirklich ein Prophet oder überhaupt irgendwo Prinz ist. Nein, ich bin gekommen, um euch vor einer anderen Krankheit zu warnen, einer Krankheit, die ihr übersehen habt, obwohl einige von euch von ihrem Vorhandensein wissen. Es gibt Kundschafter unter uns, meine Herren…«, sofort erfüllte ein großes Gemurmel den Saal, »… Scheusale, die falsche Gesichter tragen.«
Der Hexenmeister bückte sich, nahm ein schmutziges Bündel vom Boden und öffnete es mit einer fließenden Bewegung auf dem Tisch. Etwas wie silberne Aale auf einem schwarzen Kohlkopf rollte auf der glänzenden Tischplatte. Ein abgetrenntes Haupt?
Eine Fleisch gewordene Lüge…
Wildes Geschrei drang durch den Saal.
»… Täuschung! Gotteslästerliche Täuschung!…«
»… Irrsinn! Wir dürfen nicht…«
»… aber was könnte es…«
Ungeachtet der erstaunten Ausrufe und geschwungenen Fäuste ringsum beobachtete Cnaiür, wie Sarcellus aufstand und sich einen Weg durchs Getümmel zum Ausgang bahnte. Einmal mehr sah der Scylvendi die roten Linien, die sein Gesicht verunstalteten… Plötzlich war ihm klar, dass er dieses Linienmuster schon gesehen hatte… Aber wo?
In Anwurat! Als er Serwë schreiend im Zelt entdeckt hatte! Damals war Kellhus nackt davongesprungen, nachdem sein Gesicht sich geöffnet hatte wie eine Faust, in der ein Stück glühende Kohle steckt… Später dann hatte Cnaiür erfahren, dass dieser Kellhus gar nicht Kellhus gewesen war.
Von wölfischem Hunger gepackt stand Cnaiür auf und hetzte Sarcellus nach. Endlich verstand er, was der Dûnyain am Tag seiner Verurteilung durch die Hohen Herren, der auch der Todestag von Serwë war, zu ihm gesagt hatte. Die Erinnerung an Kellhus’ Stimme durchdrang den Donner der versammelten Inrithi.
Eine Fleisch gewordene Lüge.
Ein Name.
Der Name Sarcellus.
Sinerses fiel gleich hinter der Schwelle auf die Knie und drückte den Kopf auf die in Stein gemeißelte Teppichimitation. Wie den meisten Kulturen galten den Kianene bestimmte Schwellen als heilig, doch statt sie – wie die Ainoni – an bestimmten Tagen zu salben, schmückten sie sie mit herrlich gemeißelten Schilfteppichen. Hanamanu Eleäzaras schätzte diesen Brauch. Der Übergang von einem Ort zum anderen sollte, wie er fand, in Stein festgehalten werden. So gebot es die Höflichkeit.
»Hochmeister! «, keuchte Sinerses und warf den Kopf zurück. »Ich habe Nachricht von Chinjosa!«
Eleäzaras hatte mit dem Boten gerechnet, nicht aber mit seiner Aufregung. Fröstelnd sah er seine Sekretäre an und schickte sie mit einer vagen Handbewegung aus dem Zimmer. Wie die meisten mächtigen Männer in Caraskand interessierte er sich sehr für alle Einzelheiten seiner schwindenden Vorräte.
Alles schien sich in den letzten Monaten gegen ihn verschworen zu haben. Die Belagerung Caraskands dauerte nun schon so lange, dass selbst ranghohe Hexenmeister bitteren Hunger litten und mancher sogar begonnen hatte, den Ledereinband und die Pergamentseiten der kostbaren Schriften zu kochen, die den Zug durch die Wüste überstanden hatten. Der ruhmreichste Orden im Gebiet der Drei Meere verspeiste
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