Der Prinz von Atrithau
überquerten.«
»Also verzichteten sie auf Vorsichtsmaßnahmen, weil sie sich für unbesiegbar hielten…« Iyokus sah zu Boden, als betrachtete er seine in Sandalen steckenden Füße und seine rissigen Zehennägel, die unter dem Saum seiner glänzenden Robe hervorlugten. »Durchaus möglich«, sagte er schließlich. »Sie hatten offenbar nur die Absicht, das Zentrum der Inrithi zu dezimieren, um sicherzustellen, dass es beim nächsten Angriff zusammenbricht. Sie hielten sich vermutlich für vorsichtig.«
Sie waren an den Lagerfeuern und bestickten Rundzelten ihrer Landsleute aus Ainon vorbei an den Rand des untergegangenen Mengedda gekommen. Das Gelände stieg an und war von breiten Steinfundamenten durchzogen – den Resten einer alten Mauer, wie Eleäzaras erkannte. Sorgsam darauf bedacht, ihre Roben nicht zu beschmutzen, erreichten sie den steinigen Gipfel. Ringsum erstreckten sich weite Trümmerfelder und eingestürzte Mauern, und am Horizont stand eine alte, von einem Wald zyklopischer Pfeiler gekrönte Akropolis verlassen unter dem Sternbild der Uroris.
Etwas hat diesem Ort das Rückgrat gebrochen, dachte Eleäzaras – irgendwas bricht jedem Ort das Rückgrat.
»Was gibt es Neues von Drusas Achamian?«, fragte er und war seltsam außer Atem.
Der chanvsüchtige Iyokus blickte in die Nacht und schien einmal mehr in seine ärgerlichen Träumereien versunken. Wer wusste schon, was in diesem so spinnenartigen wie methodischen Geist vor sich ging? Schließlich sagte er: »Was den angeht, fürchte ich, dass Ihr Recht haben könntet.«
»Das fürchtest du?«, stieß Eleäzaras geradezu hervor. »Du hast die Befragung von Skalateas doch selbst zu Ende gebracht. Von den Hauptpersonen vielleicht abgesehen, weißt du besser als jeder andere, was sich in jener Nacht unter dem kaiserlichen Palast ereignet hat. Das Scheusal hat Achamian erkannt – also steht dieser Achamian in irgendeiner Verbindung zu ihm. Und da das Scheusal nur ein Kundschafter der Cishaurim gewesen sein kann, steht auch Achamian mit den Cishaurim in Verbindung.«
Iyokus wandte sich Eleäzaras zu und meinte honigsüß: »Fragt sich nur, ob diese Verbindung von Bedeutung ist.«
»Genau das müssen wir herausfinden.«
»Allerdings. Und wie sollen wir dabei vorgehen?«
»Wie wohl? Indem wir ihn uns schnappen und verhören.« Glaubte Iyokus denn, die Bedrohung durch solche Wechselbälger rechtfertigte keine so extremen Maßnahmen? Eleäzaras konnte sich keine größere Gefahr vorstellen!
»Genau wie Skalateas?«
Eleäzaras dachte an das flache Grab, das sie in Anserca zurückgelassen hatten, und unterdrückte ein ungewohntes Schaudern.
»Genau wie Skalateas.«
»Das eben fürchte ich«, sagte Iyokus.
Plötzlich verstand Eleäzaras. »Du hältst es also für sinnlos, ihm mit Fragen zuzusetzen…«
Im Laufe der Jahrhunderte hatten die Scharlachspitzen dutzende von Ordensleuten der Mandati in der Hoffnung entführt, ihnen die Geheimnisse der Gnosis – der Hexenkunst des Alten Nordens – zu entreißen. Nicht einer von ihnen hatte sich ihnen gebeugt. Nicht einer.
»Ihm mit Fragen nach der Gnosis zuzusetzen, wäre wohl sinnlos«, sagte Iyokus. »Ich fürchte, dass er sogar unter der Folter oder anderen Zwangsmaßnahmen darauf bestehen wird, das Scheusal, das Skeaös ersetzt hat, sei ein Rathgeber gewesen, kein Cishaurim.«
»Aber wir wissen doch bereits«, rief Eleäzaras, »dass dieser Mann eine Melodie spielt und eine ganz andere singt! Denk an Geshrunni!
Drusas Achamian hat ihm das Gesicht abgesäbelt… Und dann wird er ein knappes Jahr später von einem gesichtslosen Kundschafter in den Kerkern des Kaisers erkannt – das ist doch kein Zufall!«
Eleäzaras funkelte seinen Geheimdienstchef zornig an und ergriff seine zitternden Hände. Ich mag die kriecherische Art nicht, mit der er mir zuhört, dachte er.
»Ich kenne diese Argumente«, sagte Iyokus und wandte sich ab, um die mondbeschienenen Ruinen noch einmal zu mustern. Dabei waren seine Züge so transparent wie unlesbar. »Ich fürchte nur, dass es um mehr geht…«
»Es geht immer um mehr, Iyokus. Warum sonst sollten Menschen sich gegenseitig umbringen?«
Seit dem Tod ihrer Tochter hatte Esmenet oft versucht, sich mit der Leere in ihrem Innern zu befassen.
Sie hatte versucht, sie durch Fragen an die Priester, mit denen sie schlief, zum Verschwinden zu bringen, doch die Gottesmänner hatten ihr stets die gleiche Antwort gegeben – dass nämlich Gott einzig in Tempeln
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