Der Prinzessinnenmörder
Ohr.
»Sie kennen mich noch?«, fragte Rathberg.
»Ja«, sagte Wallner. Er war bemüht, ruhig zu bleiben und zu verhindern, dass seine Stimme zitterte. Wallners Erfahrung nach machte es am Anfang Sinn, viel zu reden. Zunächst über Belanglosigkeiten. Je entspannter die Atmosphäre war, desto seltener kam es zu Kurzschlusshandlungen. Wallner war allerdings sicher, dass Rathberg ohnehin nur tat, was er gründlich vorbereitet und durchdacht hatte. »Es waren interessante Abende.«
»Ja. Ich kann mich nicht beklagen. Ich muss Sie, bevor wir fortfahren, darauf hinweisen, dass dieses Gespräch zur Qualitätssicherung mitgeschnitten wird. Und zwar von mehreren Dutzend Fernsehstationen und Nachrichtenagenturen, denen ich diese Website ans Herz gelegt habe. Sollte es im Verlauf unserer Unterhaltung also Tote geben, wird man hinterher recht gut analysieren können, ob Fehler gemacht wurden. Da kommt ganz schön was auf Sie zu.«
»Was verschafft ausgerechnet mir die Ehre?«
»Nichts Persönliches. Sie sind zuständig. Das ist alles. Wenn Ihnen der Job zu heiß ist, schicken Sie einen anderen.«
»Ach, wissen Sie – ich bin hier auch sonst immer der Depp, wenn was schiefgeht. Was macht Sie so sicher, dass Sie online bleiben?«
»Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens: Die Medien würden Sie und Ihre Vorgesetzten kreuzigen, wenn Sie ihnen das Programm abschalten. Zweitens können Sie sehen, was ich mache. Wenn Sie die Karte für meinen Computer sperren lassen, gibt’s auch kein Bild mehr.«
»Erklären Sie mir, was das Ganze soll?«
»Das liegt auf der Hand, denke ich: Ich bekomme PR für meine Sache.«
»Was bekomme ich?«
»Die Gelegenheit, mit mir zu reden. Sie können dadurch das Leben dieses Mädchens verlängern.«
»Kann ich das?«
»Alte Regel: Solange geredet wird, fließt kein Blut.«
»Was kann dabei im besten Fall herauskommen?«
»Eigentlich nichts. Diese junge Frau wird am Ende unserer Unterhaltung tot sein. Was haben Sie eigentlich ihrer Mutter gesagt?«
»Woher wollen Sie wissen, dass ich mit ihr gesprochen habe?«
»Sie haben mit ihr gesprochen. Weiß sie, wie es um ihr Kind steht?«
»Sie weiß, dass wir ihre Tochter suchen.«
Rathberg zog jetzt aus seiner Jacke ein Stilett. Das Messer war mit einer dünnen, aber durch ihren quadratischen Querschnitt festen Klinge versehen, die im oberen Teil nadelspitz zulief. Rathberg hauchte die Klinge an und polierte sie mit einem Brillentuch, das er ebenfalls aus seiner Jacke holte. Er präsentierte das Stilett vor der Kamera.
»Voilà! Die Tatwaffe.« Rathberg beugte sich über das Mädchen und ließ das Stilett mit der Spitze nach unten fallen. Es bohrte sich mit dumpfem Geräusch in einen hölzernen Untergrund und blieb dort stecken. Man konnte immer noch nicht sehen, worauf das Mädchen ruhte.
»Sie müssen das nicht tun. Erzählen Sie mir nicht, dass es auf einen Mord mehr oder weniger nicht ankommt. Das Mädchen hat nichts mit dem Problem zu tun, das Sie mit seiner Mutter vielleicht haben.«
»Mag sein. Aber Sie haben damit auch nichts zu tun. Trotzdem stecken Sie gerade bis zum Hals in Schwierigkeiten. Auch mein Kind hatte nichts mit den Drogen zu tun, die die Mutter dieses Mädchens hier genommen hat. Trotzdem musste Lisa deswegen sterben. Das Leben ist so.«
»Ich denke, wir haben genug Plattitüden ausgetauscht. Kommen wir zur Sache. Was muss passieren, damit dieses Mädchen nicht stirbt?«
In Rathbergs Gesicht war ein gewisses Erstaunen zu erkennen. Wallner war nicht sicher, was es widerspiegelte. War es Erstaunen über Wallners harsche Reaktion? War es Erstaunen darüber, dass Wallner den möglichen Tod des Mädchens direkt ansprach?
»Jetzt haben Sie mich auf dem falschen Fuß erwischt«, sagte Rathberg. Er zog das Stilett aus dem Holz und ließ es noch einmal durch das Brillentuch gleiten. Dann prüfte er, ob die Klingenoberfläche makellos war, und legte das Stilett vorsichtig auf das Brokatkleid. »Darüber habe ich offen gesagt gar nicht nachgedacht.« Rathberg ließ seinen Blick nach oben wandern. »Nein. Die Option, dass niemand stirbt, gibt es wohl nicht. Tut mir leid.«
»Die muss es geben. Es gibt immer A und nicht A.«
»Nur theoretisch. Auch für meine Tochter gab es theoretisch zwei Optionen. Sterben oder nicht sterben. Doch in Wirklichkeit gab es nur eine. Das hängt letztlich davon ab, von welchem Zeitpunkt aus man die Ereignisse betrachtet.«
»Für Ihre Tochter können Sie nichts mehr tun. Für dieses Mädchen da
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