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Der Professor

Titel: Der Professor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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die Tür und trat rasch in den kleinen Flur. An der Wand neben der Treppe zu den Schlafzimmern im Obergeschoss hing, wie sie sich erinnerte, ein Foto der neunjährigen Jennifer mit rosa Schleife im sorgfältig frisierten Haar. Das Mädchen hatte eine niedliche Lücke zwischen den Schneidezähnen. Es war die Art Fotos, die Eltern liebten und Teenager hassten, weil es beide an dieselbe Zeit erinnerte, die verschiedene Linsen auf unterschiedliche Weise verzerrten.
    Links sah sie im Wohnzimmer Mary Riggins und Scott West, ihren Freund, auf der Sofakante hocken. Scott hatte Mary den Arm locker um die Schulter gelegt, und er hielt ihre Hand. In einem Aschenbecher auf einem Beistelltisch mit Softdrinkdosen und halbleeren Kaffeetassen brannten Zigaretten. Ein wenig unbehaglich hielten sich zwei uniformierte Beamte im Hintergrund. Bei dem einen handelte es sich um den Sergeant der Spätschicht, bei dem anderen um einen zweiundzwanzigjährigen Neuling, der erst seit einem Monat dabei war. Sie nickte ihnen zu und registrierte den unauffälligen Blick des Sergeants zur Decke, als Mary Riggins losschluchzte: »Sie hat es wieder getan, Detective …«, und Sturzbäche folgen ließ.
    Terri wandte sich der Mutter zu. Sie hatte geweint, ihr Make-up verteilte sich in schwarzen Striemen über ihre Wangen, so dass sie ein wenig an Halloween erinnerte. Ihre Augen waren verquollen, und sie sah viel älter aus, als sie war. Tränen waren für Frauen im mittleren Alter immer eine heikle Angelegenheit – sie förderten im Handumdrehen all die Jahre zutage, die sie mit aller Macht zu verbergen suchten.
    Statt irgendwelche weiteren Erklärungen abzugeben, drehte sich Mary Riggins einfach nur zur Seite und vergrub den Kopf an der Schulter von Liebhaber Scott. Er war ein wenig älter als sie und sah mit seinem grauen Haar selbst in Jeans und verwaschenem, rotkariertem Arbeitshemd distinguiert aus. Er arbeitete als New-Age-Therapeut und spezialisierte sich auf die holistische Behandlung einer ganzen Bandbreite an psychiatrischen Erkrankungen. Seine Praxis florierte in akademischen Kreisen, die für neue Techniken etwa so offen waren wie Menschen, die sich von einer Diät in die andere stürzen. Er fuhr ein leuchtend rotes Mazda-Sportcabrio und war oft sogar im Winter, wenn auch in Parka und Holzfällermütze, mit offenem Verdeck zu sehen, was irgendwie die Grenze von der Exzentrik zur Fahrlässigkeit überschritt.
    Die städtische Polizei war mit Scott West und seiner Arbeit bestens vertraut; er und sein Mazda handelten sich mit verlässlicher Regelmäßigkeit Knöllchen wegen Geschwindigkeitsübertretung ein, und bei mehr als einer Gelegenheit musste sich die Polizei mit den wenig erfreulichen Folgen seiner eigensinnigen Heilungsmethoden befassen. Mehrere Selbstmorde. Eine Pattsituation mit einem messerschwingenden paranoiden Schizophrenen, dem er geraten hatte, das ihm verschriebene Haldol durch Johanniskraut zu ersetzen.
    Terri stufte sich als nüchterne Pragmatikerin ein, die sich vom gesunden Menschenverstand leiten ließ und Klartext redete. Wenn sie dem einen oder anderen damit gelegentlich unfreundlich erschien, dann konnte sie damit leben. Sie hatte in ihrem Leben genügend Leidenschaft und Exzentrik und Irrwitz hinter sich, um Ordnung und Regeln zu schätzen, weil die sie vor Schlimmerem bewahrten.
    Scott beugte sich vor. Er sprach im routinierten Habitus des Therapeuten: tiefes, ruhiges, vernünftiges Timbre. Der Ton sollte ihn in dieser Situation als ihren Verbündeten empfehlen, während Terri wusste, dass wohl eher das Gegenteil zutraf. »Mary ist schrecklich durcheinander, Detective.
Allen
unseren Bemühungen zum Trotz ist es dem Mädchen schon fast zur Gewohnheit geworden …« Er sprach den Satz nicht zu Ende.
    Terri wandte sich an die beiden uniformierten Polizisten. Der Sergeant reichte ihr ein Blatt liniertes Papier, wie es jeder Highschool-Schüler in seinem Ringbuchordner benutzt. Die Handschrift war sorgfältig und zeugte von dem Wunsch des Verfassers, jedes Wort klar und leserlich zu schreiben; es war nicht die hastig hingekritzelte Notiz eines Teenagers, der es nur noch eilig hatte wegzukommen. Diese Nachricht war ausgefeilt. Terri war sich ziemlich sicher, dass sie, legte sie es darauf an, verworfene frühere Fassungen im Papierkorb oder in den Mülltonnen hinterm Haus finden würde. Terri las sich den Zettel dreimal durch.
    Mom,
    ich geh mit ein paar Freunden ins Kino, wir treffen uns vorher in der Mall. Wir essen

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