Der Professor
schwarzen Anzug zu einem violetten Seidenhemd mit offenem Kragen, darunter Goldschmuck und die passende Rolex am Handgelenk. In der modernen Welt, in der Gangster und Geschäftsleute sich zum Verwechseln ähnlich sehen, konnte er das eine wie das andere, vielleicht auch beides in einem sein. Neben ihm stand eine zart gebaute Frau, die gut zwanzig Jahre jünger sein mochte als er, mit gestyltem Haar und den Beinen eines Models in einem paillettenbesetzten Kleid, das ihre knabenhafte Figur kaum verhüllte, und sagte zuerst auf Russisch, dann auf Französisch und schließlich auf Deutsch: »Wir haben erfahren, dass es auf unserem Lieblings-Web-Broadcast eine ganz neue Serie geben soll, die heute Abend beginnt. Das dürfte für viele von Ihnen von einigem Interesse sein.«
Sie legte eine Pause ein. Die Gruppe kam näher heran und machte es sich auf Sofas und Sesseln rund um den Fernseher bequem. Auf dem Bildschirm erschien ein großer Eingabepfeil, und die Gastgeberin der Party bewegte den Cursor über die Signatur und klickte mit einer Maus. Augenblicklich ertönte Musik: Beethovens »Ode an die Freude« auf einem Synthesizer. Es folgte ein Bild des sehr jungen Malcolm McDowell, der in Stanley Kubricks
Uhrwerk Orange
als Alex ein Messer in der Hand hält. Das Bild beherrschte den Fernseher. Er trug den weißen Overall, das Augen-Make-up, die Nagelstiefel und die schwarze Melone, die Regisseur und Darsteller in den frühen siebziger Jahren zusammen unsterblich gemacht hatten. Dieses Bild löste plätschernden Applaus seitens der älteren Partygäste aus, die sich an das Buch, an den Darsteller und an den Film erinnern konnten.
Das Bild des jungen Alex verschwand, und stattdessen sorgte der schwarze Bildschirm für knisternde Spannung. Binnen Sekunden erschienen in leuchtend roter Kursivschrift, die wie ein Messer quer durchs Bild schnitt, die Worte: WhatComesNext? Dies wechselte zu einem weiteren Vorspann: Serie Nummer 4.
Jetzt erschien ein Raum von einer seltsam körnigen, fast eindimensionalen Qualität, ein grauer, trostloser Ort. Keine Fenster. Keinerlei Anhaltspunkt dafür, wo er sich befand. Ein Ort vollkommener Anonymität. Zuerst konnten die Zuschauer nur ein altmodisches Bett mit Metallrahmen sehen. Darauf lag, bis auf die Unterwäsche ausgezogen, eine junge Frau mit einer schwarzen Kapuze über dem Kopf. Die Hände steckten in Handschellen, die wiederum nach Kerkermanier an Ringen an der Wand hinter ihr befestigt waren. Ihre Fußgelenke hatte man mit Stricken ans Bettgestell gefesselt.
Die junge Frau bewegte sich nicht, sondern atmete nur heftig ein und aus, und die Zuschauer konnten sehen, dass sie noch am Leben war. Sie mochte bewusstlos sein oder unter Drogen stehen, vielleicht schlief sie sogar, doch nach vielleicht dreißig Sekunden zuckte sie, so dass eine der Ketten, an der sie befestigt war, rasselte.
Einer der Partybesucher schnappte nach Luft. Jemand sagte auf Französisch: »Est-il vrai?« Doch niemand beantwortete die Frage, außer vielleicht durch beredtes Schweigen und die Art, wie alle die Köpfe vorreckten, um besser sehen zu können.
Auf Englisch sagte jemand anders: »Das ist gestellt. Das muss eine Schauspielerin sein, die für den Webcast angeheuert wurde …«
Die Frau im Paillettenkleid sah den Mann an und schüttelte den Kopf. Abgesehen vom slawischen Akzent, antwortete sie in perfektem Englisch: »Das haben zu Beginn der letzten Serie auch viele gedacht. Aber im Lauf der Tage wird einem schnell klar, dass es keine Schauspieler gibt, die bereit sind, diese Rollen zu spielen.«
Sie wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Die Gestalt mit der Kapuze schien zu zittern, und dann wandte sie plötzlich den Kopf, als habe jemand außer Reichweite der Kamera den Raum betreten. Die Zuschauer sahen, wie sie an den Ketten zerrte.
Fast ebenso schnell, wie die Szene erschienen war, erstarrte sie auf dem Monitor, als wäre es die Momentaufnahme eines Vogels im Flug. Das Bild löste sich zu einer schwarzen Fläche auf, bevor erneut ein blutroter Schriftzug erschien: LUST AUF MEHR?
Es folgte die Aufforderung, Kreditkarteninformationen einzugeben, danach eine Übersicht über die Subskriptionsgebühren. Man konnte einige Minuten, eine Stunde oder auch einen mehrstündigen Block erwerben. Wahlweise auch einen Tag oder mehr. Ein hoher Preis wurde für Serie Nummer 4 FULL ACCESS WITH INTERACTIVE BOARD verlangt. Unter den jeweiligen Angaben war eine große elektronische Stoppuhr eingeblendet,
Weitere Kostenlose Bücher