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Der Professor

Titel: Der Professor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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sich je verzeihen würde, dass sie den Bären im Stich gelassen hatte. Sie glaubte nicht, dass sie ohne ihn nach Hause konnte. Sie wusste, dass sie ihrem Vater nicht ohne ihn in die Augen sehen konnte, auch wenn ihr Vater tot war, was in diesem Moment kein Hindernis zu sein schien. Jeder Teil von ihr krampfte sich zusammen, als würden ihr die Glieder ineinandergeschraubt.
    »… einundzwanzig, zweiundzwanzig …«
    Sie wollte unbedingt genug Zeit verstreichen lassen.
Lass sie entkommen. Lass sie ziehen. Du wirst sie nie wiedersehen.
Es leuchtete ihr ein.
Sie sind mit mir fertig. Es ist vorbei.
Sie konnte die Tränen nicht zurückhalten und schluchzte los. Sie wagte nicht, die Worte
Ich werde leben
zu Ende zu denken – doch dieses Gefühl wallte in ihr auf, während sie die Sekunden verstreichen ließ.
    Als sie langsam und gewissenhaft bis zweihundertvierzig gezählt hatte, hielt sie es nicht länger aus.
Den Schlüssel,
sagte sie sich.
Nimm den Schlüssel. Geh nach Hause.
    Ohne aufzustehen, bückte sie sich, streckte die Hand aus und tastete mit den Fingern über den Boden, bis sie an etwas Hartes, Metallisches stieß. Jennifer hielt inne. Es fühlte sich anders als ein Schlüssel an. Sie tastete sich weiter vor, und ihre Hand legte sich um etwas Hölzernes.
    Ihre Fingerspitzen strichen über die Form des Schlüssels. Etwas Rundes. Etwas Langes. Etwas Schreckliches. Sie zuckte heftig zurück und schnappte hörbar nach Luft, als hätte sie sich die Finger verbrannt. Sie dachte:
Das schreiende Baby. Eine Lüge. Die spielenden Kinder. Eine Lüge. Der Lärm eines Streits. Auch das eine Lüge. Die Polizei ein Stockwerk über ihr. Eine Lüge.
    Ein Schlüssel, um dich zu befreien. Die schlimmste von allen Lügen.
Zu ihren Füßen lag kein Schlüssel zu einer Tür. Dort lag eine Pistole.

42
    A drian nahm mindestens drei falsche Abzweigungen und wusste nach einer Reihe holpriger Straßen nicht mehr, wo er war. Sie führten durch eine Reihe kleiner Städtchen, die pittoresk gewesen wären, hätten nicht die allgegenwärtigen Zeichen von Armut und Verfall den Eindruck getrübt. Zu viele aufgebockte rostige Autowracks auf Abstellplätzen, zu viele alte landwirtschaftliche Geräte, die an wackeligen Zäunen lehnten. Er kam an Scheunen vorbei, die seit mindestens zehn Jahren keinen Anstrich mehr gesehen hatten, mit Dächern, die unter der Schneelast zu vieler strenger Winter eingesackt waren, daneben auch an extrabreiten, mit Satellitenschüsseln versehenen Caravans. Handbemalte Werbetafeln für
echten
Ahornsirup oder
echtes
amerikanisches Kunsthandwerk schossen über Kilometer wie Pilze aus dem Boden.
    Er fuhr auf Straßen, die an keine beliebten Ziele führten. Es waren gewundene, schmale Sträßchen weitab von jenen Regionen Neuenglands, welche die Reisebroschüren füllten. Über weite Strecken dichter, wilder Baumbewuchs, der sich zu beiden Seiten der Fahrbahn erstreckte und mit den ersten Blattknospen sein frisches Grün ausbreitete. Zwischen den Wäldchen lagen Felder, auf denen einmal Milchkühe und Schafe geweidet hatten. Diese Gegenden von Amerika fristeten ein Mauerblümchendasein – bestenfalls zur Kenntnis genommen, wenn man sie möglichst zügig durchquerte, um irgendwo anders hinzukommen, zu einem exklusiven Sommerhaus am See oder einer teuren Ferienwohnung in einem Skigebiet. Mehr als einmal sah sich Adrian gezwungen, eine Strecke zurückzufahren, nachdem er stehen geblieben war, um sich seine altmodische, zerfetzte Landkarte anzusehen, die er aus dem Handschuhfach genommen hatte. Im Grunde hatte er keinen Plan.
    Seine spontane Fahrt ins Blaue hatte sich dank all der Fehlentscheidungen, wie man sie eher von einem zwanzig Jahre älteren Mann erwartet hätte, beträchtlich verzögert. Er wusste, dass jede Minute zählte. Er trat wie jemand aufs Gas, der in Panik zum Krankenhaus wollte, mit Schwung in eine Kurve ging und im letzten Moment auf die Bremse trat, um nicht die Kontrolle zu verlieren. Er schärfte sich ein, nicht noch einmal eine falsche Abzweigung zu nehmen.
Noch mal falsch gefahren
, haderte er mit sich,
und es kann fatale Folgen haben
. Zuweilen stöhnte er laut: »Nun mach schon, nun mach schon …«
    Adrian versuchte, weiter an Jennifer zu denken, doch selbst das fiel ihm nicht leicht. Einerseits entglitt sie ihm immer wieder,
     andererseits kollidierten in seinem Kopf mehrere Bilder von ihr:
die entschlossene Jennifer in der rosa Red-Sox-Kappe; die lächelnde Jennifer auf der

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