Der Professor
gewesen ist, bevor ich hierher gekommen bin.«
»Aber du hast uns doch erzählt, dass du dein Leben nicht ertragen konntest. Du hast uns erzählt, dass du davor fliehen wolltest. War das gelogen?«
»Nein«, antwortete Jennifer rasch.
»Ich denke, doch, Nummer 4.«
»Nein, nein, nein«, beteuerte Jennifer flehentlich, auch wenn sie nicht wusste, worum sie flehte.
Die Frau legte eine wirkungsvolle Pause ein, bevor sie fortfuhr. »Nummer 4, was wird deiner Meinung nach jetzt mit dir passieren?«
Jennifer hatte das Gefühl, als wären zwei von ihr im Zimmer, die denselben Platz ausfüllten. Der einen Hälfte von ihr wurde schwindelig, sie war von dem geringfügigen Tonwechsel der Frau verwirrt, während die andere Hälfte nur noch kalt, mit erstarrten Gefühlen registrierte, dass sie, egal, was sie sagte oder tat, dem Ende nahe war, auch wenn sie nicht darüber nachzudenken wagte,
wie
sie sterben sollte. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie.
Die Frau wiederholte ihre Frage. »Nummer 4, was, glaubst du, wird jetzt mit dir geschehen?«
Darauf eine Antwort zu erwarten war so grausam wie alles andere, was sie ihr angetan hatten, dachte Jennifer. Darauf zu reagieren war schlimmer, als geschlagen, angekettet, gedemütigt, vergewaltigt und gefilmt zu werden. Die Frage verlangte von ihr, in die Zukunft zu blicken, was sich seelisch so anfühlte, wie mit einer Rasierklinge geschnitten zu werden. Jennifer wurde klar, dass es schrecklich genug war, im Hier und Jetzt zu leben, doch darüber hinaus zu spekulieren erschien ihr noch schlimmer.
»Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht, ich weiß es nicht«, sagte sie. Die Worte brachen schrill und unwillkürlich wie ein Sturzbach aus ihr hervor und trotzten der dämpfenden Wirkung der Haube.
»Nummer 4, ich will es ein letztes Mal versuchen. Was –«
Jennifer unterbrach sie. »Ich glaube«, antwortete sie in Panik, »ich werde«, sie versuchte, langsamer zu sprechen, »nie hier wegkommen. Ich glaube, ich werde für den Rest meines Lebens hier sein. Ich glaube, das hier ist jetzt mein Zuhause, und es gibt kein Morgen oder Übermorgen. Nicht einmal eine nächste Minute. Es gibt nur das hier. Diesen Moment. Weiter nichts.«
Die Frau sagte eine Weile nichts, und Jennifer wusste nicht, ob ihr das, was sie gesagt hatte, gefallen hatte oder auch nicht.
Es war ihr egal. Es war ihr gelungen zu antworten, ohne die einzige richtige Antwort auszusprechen,
Ich werde sterben
.
Dann lachte die Frau. Es war ein schneidendes Geräusch, das Jennifer durch und durch ging und fast physisch wehtat. »Möchtest du dich retten, Nummer 4?«
Was für eine blöde Frage,
dachte Jennifer
. Ich kann mich nicht retten. Es hat nie eine Möglichkeit gegeben, mich zu retten
. Doch während ihr diese Worte durch den Kopf schwirrten, nickte sie klar und deutlich.
»Gut«, sagte die Frau. Wieder herrschte kurzes Schweigen. »Ich habe eine Bitte, Nummer 4«, fuhr die Frau fort.
Eine Bitte? Ich soll ihr einen Gefallen tun? Unmöglich.
Jennifer beugte sich ein wenig vor. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Jedes Wort der Frau war Lug und Trug, sie konnte nur nicht sagen, was sie diesmal im Schilde führte. »Du wirst tun, worum ich dich bitte?«, fuhr die Frau fort.
Jennifer nickte erneut. »Ja, egal, was, ich werde es tun.« Sie glaubte, dass ihr gar keine andere Wahl blieb.
»Wirklich alles?«
»Ja.«
Schweigen. Jennifer rechnete schon damit, dass sie ihr aufs Neue Schmerz zufügen würde.
Sie wird mich schlagen. Vielleicht wird der Mann mich noch einmal vergewaltigen.
»Gib mir deinen Bären, Nummer 4.«
Jennifer begriff nicht. »Was?«, fragte sie.
»Ich will den Bären, Nummer 4. Sofort. Gib ihn mir.«
Jennifer war aufgelöst. Sie wollte schreien. Sie wollte weglaufen. Genauso gut hätte sie von ihr verlangen können, ihr Herz oder ihren Atem auszuhändigen. Mister Braunbär war das Einzige, was Jennifer daran erinnerte, Jennifer zu sein. Sie spürte das raue, synthetische Fell des Stofftiers an ihrer nackten Haut. In diesem Moment fühlte es sich so an, als sei das Tier mit ihrem Körper verwachsen.
Mister Braunbär aufgeben? Ihr schnürte es die Kehle zu. Sie krächzte, rang nach Luft und wippte auf ihrem Stuhl vor und zurück, als hätte ihr jemand einen schweren Schlag in die Brust versetzt. »Ich kann nicht, ich kann nicht«, stöhnte Jennifer.
»Der Bär, Nummer 4. Als kleines Andenken an dich.«
Ihr stiegen die Tränen in die Augen, und ihr wurde flau. Sie fürchtete, sich
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