Der Professor
als er Cassie flüstern hörte:
»Vergiss nicht …«
Adrian schüttelte den Kopf und murmelte: »Konzentrier dich!« Er hatte den Eindruck, dass seine Denkfähigkeit auf vielleicht fünfzig Prozent gesunken war, vielleicht sogar noch weiter. Ohne ihre Mahnung wäre er verloren gewesen. »Tut mir leid, Possum«, antwortete er. »Du hast recht. Ich werde sie brauchen.« Er beugte sich noch einmal in den Wagen und griff nach der Ruger Neunmillimeter auf dem Beifahrersitz.
Das Gewicht der Waffe in der Hand war ihm vertraut. Er musste daran denken, dass er dafür viel häufiger Verwendung hatte als Brian. Sein Bruder hatte sie nur ein einziges Mal benutzt – um Selbstmord zu begehen. Adrian hätte sie um ein Haar zu dem gleichen Zweck verwendet und hatte sie dann wiederholt zum Einsatz gebracht, um Mark Wolfe zu bedrohen. Jetzt war vielleicht der Moment gekommen, in dem er sie noch einmal benötigen würde. Er versuchte, sie in die Jackentasche zu stecken, doch sie passte nicht hinein. Er versuchte, sie unter den Hosengürtel zu schieben, doch was für Fernseh- oder Filmstars ein Kinderspiel schien, beunruhigte ihn, und er hatte Sorge, dass sie ihm herausrutschen und verlorengehen könnte. Also behielt er den Revolver in der Hand.
Adrian sah in den Himmel. Eine leichte Brise ging durch die Bäume; Sonne und Schatten wogten hin und her. Er trottete über die Straße und machte sich auf den Weg zur Einfahrt. Er schreckte einen Schwarm kohlschwarzer Krähen von einer blutigen Beute auf, die sie halb verzehrt liegen ließen. Dass er niemandem begegnete, war eine Erleichterung, denn vermutlich sah er vollkommen irre und lächerlich aus.
Terri Collins holte alles aus ihrem Kleinwagen heraus, was er hergab, und schlug jegliche Zurückhaltung in den Wind. Mark Wolfe hielt sich an dem Griff über dem Beifahrersitz fest und genoss mit einem zufriedenen Grinsen die Achterbahnfahrt. Viele Kilometer flogen unter ihren Reifen dahin. Die meiste Zeit fuhren sie schweigend und horchten nur auf die GPS -Instruktionen der verführerischen, etwas metallischen Stimme des Navigationssystems, das über eine Anwendung in Terris Handy lief.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit sie gegenüber dem Professor aufgeholt hatte. Eine Menge.
Genug?
Sie war sicher, dass es sich hier um einen Notfall handelte, hätte jedoch Mühe gehabt zu erklären, wieso es so dringend war.
Weil sie einen halb verrückten Universitätsprofessor davon abhalten musste, einen unschuldigen Menschen zu erschießen? Schon möglich. Um ein von zu Hause weggelaufenes Mädchen zu finden, das auf einer Porno-Website ausgebeutet wurde? Auch das war möglich. Um am Ende keins von beidem zu tun und sich zum Narren zu machen? Ziemlich wahrscheinlich.
Einmal hatte Wolfe gelacht. Sie fuhr fast hundertsechzig, und er fand das unglaublich amüsant. »Mich hätte ganz bestimmt ein Staatspolizist drangekriegt«, sagte er. »Und große Augen gemacht, sobald er mein Kennzeichen und meinen Führerschein überprüft hätte. Aber Sie haben Schwein.«
Terri sah das anders. In Wahrheit wäre sie froh gewesen, wenn ein Trooper von hinten herangebraust wäre und sie die Chance gehabt hätte, ihn um Unterstützung zu bitten.
Dabei war sie nicht sicher, ob sie Hilfe brauchte oder nicht. Sie fühlte sich wie auf einer bizarren Reise: In Begleitung des denkbar widerwärtigsten Sancho Pansa verfolgte sie einen Don Quijote, dem selbst der rudimentäre Realitätssinn des literarischen Vorbilds abging.
Die Navigationsstimme führte sie von der Autobahn auf entlegene Landstraßen, auf denen sie weiter so schnell fuhr, wie es die Kurven erlaubten. Ihre Reifen quietschten. Wolfe riss es unter der Fliehkraft von einer Seite zur anderen.
Eine abwechslungsreiche, idyllisch einsame Landschaft fegte an ihnen vorbei. Die Wälder und Felder hätten einfach nur schön und friedlich sein sollen, doch stattdessen schienen sie finstere Geheimnisse zu verbergen. Für einen Augenblick kam ihr der Gedanke, dass sie das vertraute Terrain von Ordnung und Methode hinter sich gelassen hatte. Die Stadt, in der sie arbeitete, passte zu ihr. Sicher war nicht alles ideal, doch was immer es an düsteren Unterströmungen gab, verstand sie, so dass sie nichts zu befürchten hatte. Diese Fahrt dagegen erfüllte sie mit düsteren Vorahnungen, die alles, was sie in ihren Jahren bei der Polizei erlebt hatte, in den Schatten stellten. Vielleicht nicht ihre Jahre als Opfer von Gewalt. Sie schüttelte den Kopf, als antwortete
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