Der Prometheus-Verrat
Expeditionskorps jenem General zu Hilfe geschickt werden sollte, der mit seinen Truppen seit zwei Jahren belagert wurde. Waller und seine Direktoratskollegen waren überzeugte Verfechter einer freiheitlichen Demokratie – aber sie waren auch überzeugt davon,
dass, wer ihre Zukunft sichern wollte, sich nicht immer an die, wie Waller sagte, Boxregeln des Marquis of Queensbury halten durfte. Wenn der Feind Tiefschläge verteilte, war man gut beraten, mit den entsprechend wirksamen Mitteln darauf zu antworten. »Wir sind das notwendige Übel«, hatte Waller gesagt. »Aber bilde dir bloß nichts darauf ein, denn das Hauptwort ist und bleibt ›Übel‹. Ja, wir operieren im rechtsfreien Raum, ohne Aufsicht und Kontrolle. Manchmal wird mir selbst vor unserem Verein angst und bange.« Es klimperte wieder im Glas, als er den letzten Schluck Bourbon kippte.
Nick Bryson hatte schon so manchen Fanatiker – nicht nur im gegnerischen Lager, sondern auch in den eigenen Reihen – zu Gesicht bekommen und fand Wallers Ambivalenz so tröstlich wie seinen Verstand bewundernswert: diese Gedankenschärfe und diesen Idealismus, der wie Sonnenlicht durch die Schlitze einer heruntergelassenen Jalousie aus Zynismus strahlte. »Mein Freund«, sagte Waller, »wir sind hier, um eine Welt zu schaffen, in der wir nicht mehr nötig sein werden.«
Jetzt, im aschfahlen Licht des frühen Nachmittags spreizte Waller seine Hände auf der Schreibtischplatte, wie um Halt zu finden bei der unangenehmen Aufgabe, die ihm nun bevorstand. »Wir wissen, dass dich Elenas Abschied sehr mitgenommen hat«, hob er an.
»Komm mir jetzt nicht damit«, blaffte Bryson. Er spürte eine Ader in seiner Stirn pulsieren. Elena war über viele Jahre seine Frau, Freundin und Geliebte gewesen. Vor sechs Monaten hatte Bryson sie aus Tripolis angerufen und erfahren müssen, dass sie ihn verlassen wollte. Darüber zu diskutieren, wäre zwecklos; sie sei fest entschlossen und durch nichts von diesem Entschluss abzubringen. Ihre Worte hatten ihn tiefer verletzt als Abus Messer. Ein paar Tage später war er – unter dem Vorwand, Waffen zu beschaffen – in die Staaten zurückgeflogen, um einen Zwischenbericht abzulegen, und musste erfahren, dass sie tatsächlich aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen war.
»Hör zu, Nick, du hast wahrscheinlich mehr Gutes auf der Welt erreicht als irgendein anderer Geheimdienstler.« Waller überlegte kurz und fuhr dann mit sehr bedacht gewählten Worten fort: »Wenn ich dich weiter gewähren lasse, ist zu fürchten, dass du diese Leistung Stück für Stück zunichte machst.«
»Mag sein, dass ich dieses eine Mal Mist gebaut habe«, entgegnete Bryson. »So viel bin ich bereit einzuräumen.« Es hatte auch hier keinen Sinn zu diskutieren, doch er konnte sich einfach nicht zurückhalten.
»Du wirst wieder Mist bauen«, sagte Waller. »Wir pflegen in diesem Zusammenhang von Hab-Acht-Ereignissen zu sprechen. Die sind als Frühwarnsignale zu verstehen. Du warst außergewöhnlich erfolgreich, und das über lange Zeit. Außergewöhnlich. Aber fünfzehn Jahre , Nick. Für Agenten im Außeneinsatz sind das Hundejahre. Man sieht nicht mehr klar, ist ausgebrannt, und das Schlimme ist, man selbst merkt es nicht einmal.«
War das Zerwürfnis in seiner Ehe etwa auch so ein Hab-Acht-Ereignis? Während Waller in ruhigem Tonfall weiter räsonierte, spürte Bryson einen Wust an Gefühlen aufwallen, wovon eines Wut war. »Meine Fähigkeiten …«
»Ich spreche nicht von deinen Fähigkeiten. Was die Arbeit im Außeneinsatz angeht, gibt es nach wie vor keinen Besseren als dich. Ich spreche im Augenblick vielmehr über Zurückhaltung, die Fähigkeit, auf Aktion zu verzichten. Die ist besonders wichtig, aber daran mangelt’s dir.«
»Vielleicht wäre einfach einmal ein kleiner Urlaub fällig.« In Brysons Stimme schwang eine Spur Verzweiflung mit, wofür er sich gern selbst in den Hintern getreten hätte.
»Das Direktorat gewährt keine Freijahre«, antwortete Waller trocken. »Das weißt du. Nick, du hast anderthalb Jahrzehnte lang Geschichte geschrieben. Jetzt kannst du sie studieren. Ich entlasse dich zurück ins Leben.«
»Du willst mich also tatsächlich in den Ruhestand versetzen«, entgegnete Bryson tonlos.
Waller lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Kennst du die Geschichte von John Wallis, einem der großen britischen
Meisterspione des 17. Jahrhunderts? Er arbeitete für die Parlamentaristen und war ein Genie im Dechiffrieren geheimer
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