Der Prophet des Teufels
jeder Erfahrung und Vorstellung.«
Er verbeugt sich.
»Ich danke Ihnen«, sagt er und geht langsam hinter den Vorhang zurück. Die Scheinwerfer begleiten ihn. Der Schlagzeuger markiert auf seinem Instrument jeden Schritt des Hellsehers. Die Szene hat etwas Gekünsteltes und etwas Lächerliches. Aber die Leute im Saal scheinen es nicht zu bemerken.
Dabei ist Berlin nicht Leitmeritz, und die Besucher der »Scala« sind keine braven, biederen Provinzonkel, die sich gutmütig zwei Stunden lang das Unbegreifliche dieser Welt vorgaukeln lassen, um dann mit wohliger Müdigkeit die Daunendecke bis über das Kinn zu ziehen. Die Berliner des Jahres 1930 sind das kritischste, das intelligenteste, das gefährlichste Publikum der Welt. Wer vor sie hintritt, fordert sie heraus. Wehe, wenn er nicht besteht!
Hanussen kommt zurück. Er hat sich einen Domino über den Frack geworfen. In der linken Hand hält er den Zylinder. Seine dunkle Gestalt wächst dem taghellen Licht entgegen. Die schwarzbraunen, übergroßen, brennenden Augen scheinen jeden einzelnen im Saale anzusehen. Die Stimme, mehr flüsternd als sprechend, klingt so nah und so fern, so wirklich und unwirklich zugleich, daß alle ein Frösteln überläuft.
Was ist an diesem Mann besonderes? Warum ist jede seiner Vorstellungen ausverkauft? Warum werden die schönen, die reichen, die eleganten Frauen unruhig, wenn er in ihre Nähe kommt? Männer seines Schlages fahren zu Tausenden mit der S-Bahn, zwicken Fahrkarten oder verkaufen Hosenträger. Der Welt größter Hellseher sieht aus wie der Welt gewöhnlichster Bierverkäufer.
Er hat ein fleischiges, von harten Falten durchzogenes Gesicht mit ein klein wenig vorstehenden Backenknochen. Er hat buschige schwarze Augenbrauen. Er hat sorgfältig gepflegte, gespenstisch weiße Hände. Die Hände gehören zum Handwerkszeug eines Mannes, der Abend für Abend im Scheinwerferlicht steht. Was ist an ihm? Was ist an Erik Jan Hanussen, alias Heinrich Steinschneider aus Wien, besonderes? Er hat vielleicht nur einen einzigen Trick: Er fürchtet seine Zuschauer nicht. Aber sie haben Angst vor ihm.
Angst.
Angst treibt sie allabendlich in die »Scala«. Angst vor der Zukunft. Sie wollen das Geheimnis lüften, das sie fürchten. Und hier steht der Mann auf der Bühne, der vorgibt, es zu können.
»Ich darf Ihnen meine Assistentin vorstellen«, sagt Hanussen mit seiner heiseren, suggestiven Stimme.
»Jane, mein Medium und meine Helferin.«
Die Frauen im Saal recken die Hälse. Jane ist nicht Jane. Jane ist eine brünette, mittelgroße, über die Maßen schöne Frau, die sich in ihrem Girlkostüm sichtlich unbehaglich fühlt. Sie geht ein paar Schritte vor. Ihr Gang ist unsicher. Ein hilfloses, fast rührendes Lächeln huscht für ein paar Sekunden über ihr Gesicht. Sie verbeugt sich. Es geschieht wie in Trance.
Sie wird allabendlich den Berlinern zum Fraße vorgeworfen. Sie wird den brennenden Blicken der Herren und dem Getuschel der Frauen ausgesetzt. Nach dem Wunsche des Hellseher, den sie Meister nennen muß.
Abend für Abend recken die Frauen die Hälse, wenn sie erscheint. Denn ganz Berlin weiß, daß Jane nicht Jane ist – sondern die Baronin Prawitz, daß sie ihren Mann, ihre Familie, ihr Gut und ihren Ruf aufgegeben hat, um im Schatten Hanussens ein unwirkliches, unwürdiges Leben zu führen.
»Bitten Sie drei Herren auf die Bühne, Jane«, sagt Hanussen leise.
Es melden sich über zwanzig.
»Meine Damen, meine Herren, treffen Sie bitte die Auswahl. Wählen Sie Leute Ihres Vertrauens.«
Hanussen zündet sich eine Zigarette an. Er geht auf der Bühne spazieren. Er bleibt ab und zu stehen und wirft einer Dame ein Lächeln zu. Die ersten fünf Reihen im Parkett sind fast durchweg mit weiblichen Stammgästen gefüllt. Die erwartungsvollen Augen der blonden, schwarzen und roten Damen in Roben mit den tiefen Dekolletes, das Nebeneinander sehr gewagter, sehr individueller Parfüms, der glitzernde, fast immer echte Schmuck, die intime Begrüßung von der Bühne in das Parkett – das alles liefert den Rahmen, der Hanussen zu Hanussen macht.
Die Auswahl ist getroffen. Drei Herren bleiben auf der Bühne. Hanussen unterbricht seinen Spaziergang.
»Ich stelle fest, daß mir keiner der drei Herren persönlich bekannt ist«, sagt er. »Gut, beginnen wir mit der Arbeit.«
Er nimmt seine rechte Hand aus der Tasche und legt sie ein paar Sekunden auf seine Stirne. Er lächelt.
»Da hätten wir ja gleich den Richtigen«, sagt er.
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