Der Puls von Jandur
Geborgenheit von Nadors Umarmung.
Zwanzig
Matteo beugte sich über das Quellbecken. Wie ein Whirlpool für Götter sah es aus, herrlich groß und verlockend. Blinzelnd betrachtete er den in sich wogenden Quell – diese universelle Energie, wie Ansho sich ausgedrückt hatte.
Könnte man den Himmel einfangen und in eine Flüssigkeit verwandeln, dann würde sie genau so aussehen, dachte Matteo. Ein glitzernd blauer Sommerhimmel.
Wie viele Pulse hatten den Quell bereits gespeist? Wie viele Menschen hatten ihm das Leben gerettet?
Er konnte nicht länger in dieses gleißende Licht schauen und wandte sich Nador zu, der neben ihn getreten war. »Woher hat der Quell seine Heilkraft?«
»Sie war immer schon da«, erklärte Nador. »Wir stehen hier an der ursprünglichen Quelle, das Becken und der Tempel wurden ringsherum erbaut.«
Eine Heilquelle also, wie es sie in seiner Welt auch gab, nur weitaus effektiver.
»Ich kann einfach nicht glauben, dass die Energie der zugeführten Pulse die Heilwirkung des Quells verbessert.« Oder Unsterblichkeit bewirkt. Ihn schauderte.
»Unvorstellbar, nicht wahr?« Nador schöpfte Quell über die Schnitte an seinem Unterarm. Blaufunkelnde Tropfen perlten über seine Haut, es zischte leise, die Wunden schlossen sich. »Und doch scheint es zu funktionieren. Allerdings vollzieht sich der Kreislauf der Lebensenergie nicht auf der Ebene des Sichtbaren.« Er stieß ein abfälliges Lachen aus. »Es passiert rein gar nichts, wenn man einen Puls in das Quellbecken gleiten lässt. Wie sollte es auch? Das wäre, als ob man einen Becher in einem fort mit Wein füllt und hofft, dass er sich dadurch im Geschmack verbessert. Er wird übergehen und es wird sich doch nichts ändern. Nein, dieses Ritual hat Dylora erfunden, um den Menschen, die sich hier opfern, etwas zu geben, das sie begreifen können. An das sie sich klammern können. Der strenge Ablauf der Zeremonie gibt ihnen Halt. Anders würden sie ihren bevorstehenden Tod nicht ertragen.«
Matteo schluckte. »Du meinst, sie töten die Auserwählten hier?«
»Nicht direkt hier. Im Zeremoniensaal.«
Gänsehaut kroch über Matteos Arme. »Wie läuft die Zeremonie ab?«
Nador seufzte. »Nach ihrer Ankunft in Eznar werden die Auserwählten gebadet und erhalten einfache Kutten. Dann versammeln sie sich mit den Quellbrüdern im Zeremoniensaal. Ein Squirre – momentan ist es Veloy – prüft noch einmal die Pulse, sie hören eine Predigt, beten gemeinsam und werden ein letztes Mal mit Quell gesegnet. Nichts davon ist wirklich nötig, es gehört zum Festakt. Anschließend wird der erste Auserwählte zum Altar geführt und entkleidet. Im Rahmen eines Gebets wird sein Puls vor den Augen aller extrahiert und in ein Hanforo gesteckt. Währenddessen singt die Nymure, damit der Auserwählte gelassen und voller Freude in den Tod geht.« Er räusperte sich. »Du musst wissen«, sagte er sanft, »dass der Puls an seinem Körper hängt und sich nicht so ohne weiteres von ihm löst. Puls und Leib bilden eine Einheit, eins ist ohne das andere nicht lebensfähig.«
Wie von selbst schossen Matteos Hände an seinen Soplex. Er wusste, wovon Nador da sprach. Trotzdem er seine Kraft eingebüßt hatte und immer schwächer wurde, war sein Puls nicht gewillt gewesen, Khors Körper endgültig zu verlassen und in das Hanforo zu schlüpfen.
»Mein Puls hat sich gewehrt. Und das obwohl die Nymure gesungen hat«, meinte er.
»Dein Puls, Matteo, ist ja auch der Lichtpuls. Dylora hätte keine Chance gehabt, ihn zu extrahieren, hätte sie ihn nicht zuvor aus deinem Körper geschnitten. Die Nymure vermag dich zu beruhigen, dir die Schmerzen zu nehmen und dich in den Tod zu geleiten, doch das nützt alles nichts, wenn der Puls dagegen ankämpft. Am Ende muss man ihn mit Gewalt in das Hanforo zwingen.«
Matteo schoss der Wortwechsel zwischen Sebastján und Aduka in den Sinn. Man könne einen Puls mittels Hanforo nicht bloß extrahieren, sondern umgekehrt auch in einen anderen Körper stecken. Einen Puls , hatte Aduka betont. Keinen Jungen.
Irgendetwas an dieser Aussage hatte ihn damals schon irritiert und jetzt hatte er erneut das Gefühl, dass ihm etwas Essentielles entgangen wäre. Was es auch war, er bekam es einfach nicht zu fassen. Er brauchte mehr Informationen.
»Dieses Hanforo – was ist das genau?«
Nador blickte ihn unbehaglich an, antwortete jedoch ohne zu zögern. »Ein Pulsgefäß. Eine Art Aufbewahrungsort, an dem der Puls eine ganze Weile ohne Körper
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