Der Puls von Jandur
überleben kann. Die Hanforos wachsen in den Smaragdflüssen. Die Quellbruderschaft rodet diese Pflanzen rücksichtslos. Noch ist das Gleichgewicht in den Flüssen intakt, doch es könnte jederzeit kippen, wenn sich die Anzahl der Hanforos weiter verringert. Dann werden die Smaragdflüsse zur Kloake.«
»Kommt das Salz des Flusswassers wirklich von den Tränen der Toten?«, hakte Matteo ein. »Ist es deshalb grün?«
Nador lachte schallend. »Wer hat dir denn das erzählt? Lith, nehme ich an. Ich wusste nicht, dass sich diese Legende unter den Squirre immer noch so hartnäckig hält. Nein, die Hanforos leben in Symbiose mit den Smaragdkrebsen. Sie scheiden den grünen Farbstoff aus, einen Nährstoff, den die Hanforos zum Wachsen benötigen. Diese wiederum bedingen das Salz, das für die Krebse lebensnotwendig ist.«
»Etwas Ähnliches habe ich mir fast gedacht.« Matteo schwieg einen Moment, bis die nächste Frage auf seine Lippen drängte. »Was passiert mit den Leichen der Auserwählten?«
»Richtig«, erwiderte Nador, »wir sind ja ganz vom Thema abgekommen. Also, zurück zur Zeremonie: Nachdem der Puls extrahiert worden ist, zieht die Prozession mit dem Hanforo in die Quellhalle. Währenddessen schaffen die Brüder den Leichnam weg. In den Keller, unter dem Tempel. Wer noch lebt – denn oft stirbt der Körper nicht unmittelbar sofort –, der wird von den Brüdern erstickt.« Er sagte es ruhig, doch an seinem düsteren Blick erkannte Matteo, dass ihm der Mord an diesen Menschen sehr wohl naheging. »Was sie danach mit den Leichen machen, weiß ich nicht. Wenn sie verbrannt werden, dann nicht hier. Der Geruch wäre unerträglich.«
»Und der Puls?«
»In der Quellhalle wird die Zeremonie beendet. Der Puls gleitet aus dem Hanforo in den Quell und verpufft auf diese Weise. Man spricht davon, dass er den Quell im Becken stärkt – was natürlich absurd ist. Danach pilgern alle wieder zurück in den Zeremoniensaal und der nächste Auserwählte ist an der Reihe.«
»Was für ein Aufwand«, sagte Matteo.
»Ja, das geht von morgens bis spät in die Nacht so. Jeden Tag, immer wieder aufs Neue. Die Kapazitäten Eznars sind längst erschöpft. Andererseits muss man froh sein, dass Dylora nicht noch mehr solcher Tötungsstätten hat errichten lassen. Sonst wäre Jandur inzwischen ein Land ohne Menschen.«
»Wir sind durch verlassene Dörfer gereist«, erzählte Matteo. »In Othyram standen die Häuser sogar komplett leer.«
»Othyram ist schon seit vielen Jahren verwaist. Gerade die Menschen in kargen Gegenden haben sich rasch von den Quellbrüdern überzeugen lassen. Sie haben sich in den Städten angesiedelt, um in der Nähe eines Tempels zu leben. Heute, wo täglich immer mehr Pulse erwählt werden, lassen die Dorfbewohner oftmals ihr Hab und Gut zurück, wenn die Quellbrüder bei ihnen auftauchen und sie mit dem Versprechen auf Erlösung ködern. Sie ziehen in die nächstgelegene Stadt, wo sie auf der Straße leben oder die Häuser der Auserwählten übernehmen.«
»Das ist verrückt. Wie soll das auf Dauer funktionieren? Wovon leben die Menschen, wenn alle nur darauf warten, erwählt zu werden? Jemand muss doch arbeiten, Getreide und Gemüse anpflanzen, Vieh halten …«
Nador nickte anerkennend. »Du hast das Dilemma durchschaut. Jandur steht vor dem kompletten Zusammenbruch. Nicht mehr lange, und das Land wird seine Bewohner nicht mehr ernähren können. Zum Glück erkennen viele das Problem bereits. Vor allem junge Menschen wollen ihr Leben nicht so einfach wegwerfen. Sie schließen sich unserem Widerstand an, wollen kämpfen, doch insgesamt sind wir zu wenige und der Krieg bringt laufend neue Verluste.«
»Und wann hat das alles begonnen?«
»Mit Dyloras Regierungsantritt vor achtzehn Jahren. Ab diesem Zeitpunkt wurde die Stärkung des Quells vehement verfolgt. Als ich begriff, dass Dylora dahintersteckte, war sie längst ihrem Traum vom ewigen Leben verfallen. Sie hatte sich verändert, ohne dass ich es mitbekam. Sie wollte Khor töten. Ihren eigenen Sohn. Und jetzt dich.«
In seinen Worten klang durch, dass er Dylora einst sehr geliebt hatte. Nun kämpfte er nicht nur mit den Scherben ihrer Ehe und dem Tod des gemeinsamen Sohnes, sondern auch mit der Bürde, sein Heimatland zu retten.
Nador war in Schweigen verfallen. Abwesend starrte er vor sich hin. Matteo wollte nicht weiter in ihn dringen. Ohnehin fühlte er sich von dem Gespräch furchtbar erschöpft. Die Fülle an neuen Informationen und
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