Der Puls von Jandur
Drohung wie eine düstere Wolke über ihm. Er konnte nicht essen, nicht bevor das geklärt war. »Sie werden Lith nicht töten, oder?«, flüsterte er.
Nador schüttelte unmerklich den Kopf. »Was du da erfahren hast, ist nicht wahr. Dunkle Mächte herrschen über Jandur, doch nicht ich bin dafür verantwortlich. Hörst du? Nicht ich! Mit jedem Tag, der vergeht, sterben mehr Menschen. In der Schlacht oder weil sie sich der Bruderschaft opfern. Das ist Dyloras Werk, allein ihres. Ich habe diesen Krieg nicht begonnen, ich habe ihn nie gewollt.«
»Dann schicken Sie Ihre Männer also nicht in den Tod?« Die Wut begann Matteos Magen zusammenzuschrauben.
»Ja glaubst du denn, dass ich das gern mache? Dass es mich nicht berührt, wenn ich sie am Boden liegen sehe? Die Gesichter aufgerissen von den Klauen der Crouweks, ihre Kehlen zerfetzt, Schwertstiche in ihren Körpern? Dass ich ihre Schreie nicht höre? Ihre Qualen nicht sehe?« Er sprach jetzt sehr leise, den Mund verzerrt, als erzählte er von seinen eigenen Qualen. »Jeden Morgen bitte ich um Vergebung für das, was ich ihnen antun muss. Manchmal möchte ich davonlaufen und mich verkriechen, weil ich das Elend nicht mehr ertrage. Doch ich weiß, wenn ich es tue, dann sind das Land und seine Menschen dem Untergang geweiht. Jemand muss Dylora aufhalten. Ich muss sie aufhalten, ich muss …«
»Und dafür ist Ihnen jedes Mittel recht«, fiel ihm Matteo ins Wort. Sein Bauch krampfte, er zitterte. Alles an ihm zitterte. Die Wut bahnte sich ihren Weg nach draußen. »Warum töten Sie sie nicht selbst? Warum muss ich dafür herhalten?«
»Weil ich es nicht kann. Sie verfügt über besondere Kräfte. Zauberkräfte, wenn du so willst. Die Prophezeiung sagt, dass nur der Lichtpuls sie vernichten kann. Doch nicht jetzt, du musst ausgebildet sein, bevor du ihr gegenübertrittst.«
»Ich mach da nicht mit. Ich werde niemanden töten!«
»Dir bleibt keine Wahl. Denn Dylora wird dich töten, mein Sohn.«
»Ich bin nicht Ihr Sohn!«, schrie Matteo. »Ich bin nicht Khor! Es ist nur sein Körper! Dieser verdammte Körper!« In ihm war alles in Aufruhr. So viel hatte sich in ihm angestaut und jetzt wollte es heraus. Wie bei einem Vulkanausbruch. Unkontrollierbar.
»Ich kann ihn zerstören!« Er schnappte sich das Messer vom Tablett, holte aus, wusste, dass er einen Schritt zu weit ging. Wusste, dass er sich nicht mehr stoppen konnte.
Mit aller Kraft stieß er die Klinge auf seinen Oberschenkel herab. Nador fuhr dazwischen, lenkte den Stich ab, doch nicht weit genug. Das Messer glitt über Matteos Unterarm, schlitzte ihn der Länge nach auf, vom Handrücken bis zum Ellbogen. Er schrie vor Schmerz, das Blut schoss hervor.
Der Lord entwand ihm das Messer, warf es beiseite. »Bei den Flüssen! Was tust du da!«
Matteo presste den blutenden Arm gegen seinen Bauch und wiegte sich vor und zurück. »Zerstören! Aus! Kein Khor mehr, kein Lichtpuls! Vorbei, alles vorbei …!«
»Hör auf! Hör sofort auf!« Lord Nador packte ihn am Handgelenk. Matteo wehrte sich, drosch mit der freien Hand auf Nadors Brustkorb ein, bis auch sie mit festem Griff fixiert wurde. »Schluss, Matteo! Hör auf!«
Aber Matteo hörte nicht auf, er konnte nicht. Die Schmerzen brannten längst nicht nur in seinem Arm, sie rasten durch seinen Körper, glühend heiß wie Säure. Das Blut troff aus der Wunde. Es war überall. Auf seinem Bauch, auf der Decke, auf Nadors Hose.
Sein Blut – Khors Blut.
Sie rangen wortlos. Auf einmal gab der Lord seine Handgelenke frei, schlang beide Arme um Matteos Oberkörper und drückte ihn einfach nur an sich.
»Hör auf, hör auf, hör auf«, wiederholte er ohne Unterlass. »Hör jetzt auf. Bitte.«
Für einen Moment verblieb Matteo regungslos in dieser eisernen Umklammerung, den Kopf gegen Nadors Schulter gelehnt. Geschockt und entsetzt. Was hatte er getan? Was passierte da mit ihm? Er kannte sich selbst nicht mehr. Er hörte den Lord sprechen, spürte seine Atemzüge, seinen Herzschlag.
Genau für diesen Moment war er der Sohn. Und es tat gut.
Dann stiegen Hass und Ekel in ihm hoch – dieser Mann hatte ihn nach Jandur geholt. Er hatte ihn kaltblütig ermordet. Für ein höheres Ziel.
Matteo spannte die Muskeln an und wand sich in Nadors Armen. Augenblicklich ließ der Lord von ihm ab.
»Fassen Sie mich nie wieder an«, knurrte Matteo. »Nie wieder.«
Nador erhob sich steif. Sein Gesicht war eine graue Maske. »Ich schicke dir Lev-Chi. Er wird sich um deine
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