Der Puls von Jandur
Winzige, verwackelte Ausschnitte eines Films. Er plagte sich damit, sie zu einem Ganzen zu verbinden, aber wichtige Teile fehlten. Sein Kopf war ein Trümmerfeld und genauso fühlte er sich an.
Das Bild, das sich seinen Augen bot, war einerseits tröstlich, andererseits so erschreckend, dass er sie schnell wieder zusammenkniff.
Er lag in einem Zelt, helle Stoffbahnen spannten sich in fünf Wänden zum Boden, der nicht kahl, sondern mit bunten Teppichen ausgelegt war. Der Eingang war mit roten Tüchern verhängt, sie flatterten im Wind und ließen ab und zu flirrende Sonnenstrahlen in das sanfte Halbdunkel des Zelts. Davor lief Lord Nador mit grimmiger Miene auf und ab. Wie ein Panther in seinem Käfig.
Matteo atmete unauffällig durch. Der Lord. Er hatte ihn gefunden. In der Wüste. Ihn mitgenommen und gerettet. Und Lith? Sie auch? Oder war sie wirklich … tot?
Dunkel erinnerte er sich daran, was die Männer gesagt hatten und was danach passiert war. Das grüne Licht – sein Puls – war aus seinem Bauch hervorgeschossen, weil er Angst um Lith gehabt hatte. Die hatte er noch.
Es half nichts, er musste sich Klarheit verschaffen.
Matteo stemmte sich hoch. Der Lord fuhr herum, die Stirn in Falten gelegt, die Augen dunkel. Dann wurde sein Blick weich. Er trat heran und ging vor Matteo in die Hocke.
»Du bist wach«, sagte er und nach einem tiefen Atemzug. »Törichter Junge. Was hast du dir dabei gedacht?«
Matteo zuckte mit den Schultern. Unmöglich konnte er diese Frage beantworten, er wusste ja noch nicht einmal, worauf sie sich bezog.
Matteo sah sich um. Sein Lager bestand aus einem mit Lederriemen bespannten Feldbett, das mit Decken und Kissen bestückt war, und schräg gegenüber fand er ein zweites Bett derselben Art.
In der Mitte des Zeltes ordneten sich kleine, gepolsterte Schemel zu einem Halbkreis, davor lagen mehrere Pergamentrollen. Eine war ausgebreitet, die Ecken waren mit Steinen beschwert, es schien sich um eine Landkarte zu handeln. Auf Tabletts aus dunklem Holz waren Teekannen und Becher aus Ton bereitgestellt.
Im Hintergrund entdeckte er Holztruhen mit silbernen Beschlägen, eine Waschschüssel, einen großen Wasserkrug und ein ganzes Waffenarsenal: Schwerter, Lanzen, Pfeile, Köcher und Bögen, Dolche, mit Metalldornen besetzte Keulen, Morgensterne, Streitäxte, Wurfringe mit messerscharfen Klingen und mehrere Schilde. An einem Stützpfeiler in der Mitte hingen Kettenhemden und Brustpanzer, in einem Korb lag noch mehr Rüstzeug aus Metall wie Handschuhe und Beinschoner.
Matteo begriff. Dies war die Unterkunft eines Kriegsherrn, hier wurden Angriffspläne besprochen, feindliche Stellungen markiert, Siege gefeiert. Es war Nadors Zelt. War er denn mitten im Kriegsgebiet gelandet?
Ein wenig beunruhigt richtete er seinen Blick schließlich auf sein Bett. Am Kopfende standen auf einem weiteren Tablett ein Glastiegel, in dem Reste einer gelblichen Paste klebten, ein Krug und ein Becher. Wasser – seine Kehle brannte.
»Du hast Durst?«, fragte der Lord auch sogleich, als hätte er Matteos Gedanken gelesen. Die ganze Zeit hatte er sich nicht gerührt und geschwiegen, jetzt griff er nach dem Krug und füllte den Becher mit Wasser. »Das wundert mich nicht, du hast beinahe zwei Tage geschlafen. Viel konnten wir dir nicht einflößen.«
»Zwei Tage?« Alles war wie weggeblasen.
»Ja. Es hat euch ganz schön erwischt. Die Squirra fast noch mehr als dich.«
In Matteo erstarrte alles. »Ist sie tot?«
Ein kleines Lächeln huschte über Nadors Lippen. »Nein«, beruhigte er Matteo und reichte ihm den Becher. »Es geht ihr gut. Zu gut …«
Matteo wusste nicht, was er damit andeuten wollte, aber er verkniff sich die Frage. Lith ging es gut, das war die Hauptsache. Er trank und Nador goss wie selbstverständlich nach. Vier Becher leerte Matteo in einem Zug, dazwischen musterte er den Lord. Seine langen, schlanken Finger – Hände eines Pianisten, so wie die seines Vaters –, die ruhigen, überlegten Bewegungen, das Zucken seiner Mundwinkel.
Nador sah noch erschöpfter aus, als bei ihrer ersten Begegnung. Das braune Haar hing ihm strähnig ins Gesicht, er war kreidebleich und die Ringe unter seinen Augen näherten sich einem dunklen Violett. Er war in einen nachtblauen Anzug gekleidet: eine kurze Jacke mit Stehkragen und schwarzer Paspelierung und eine enge Hose, die in schwarzen Stiefeln steckte. Die Farbe stand ihm vortrefflich, unterstrich aber seine Blässe.
»Du wirst auch Hunger
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