Der Puls von Jandur
Komplize?«
»Ich bin derjenige, der ein Unrecht verhindern will«, antwortete Sebastján unbeeindruckt.
»Ergreift ihn!«, schrie Lenard den Soldaten zu. »Er ist ein Rebell, so wie der Junge! Ein Ungläubiger …«
»Kaiserliche Truppen!«, gellte ein Warnruf und ein Raunen ging durch die Menge. Ein junger Mann tauchte wild gestikulierend am Eck zur Seitengasse auf. »Soldaten! Sie sind in der Stadt! Vor den Toren Kiraşas wird gekämpft!«
Die Nachricht schlug Wellen, vergessen war das Schauspiel auf dem Podium. Die Leute schrien durcheinander, bildeten Grüppchen und begannen zu diskutieren, einige rannten Hals über Kopf davon.
Matteo blickte nicht mehr durch. Eine unverhoffte Wendung jagte die nächste, und auch wenn die allgemeine Aufmerksamkeit nicht mehr ihm galt, so hatte sich seine Lage nicht wesentlich verbessert. Er konnte weder vor noch zurück, er war auf der Falltür gefangen. Ein Ruck am Hebel ließe die Klappe nach unten wegkippen und er würde über dem Loch baumeln.
Wenn er nur die Schlinge vom Hals bekäme! Er ging in die Knie und versuchte, den Kopf herauszuwinden. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Sebastján sich durch den Tumult nach vorn kämpfte.
Lenard stürzte zum Richter und rüttelte ihn an den Schultern. »Hängt ihn! So hängt ihn doch!«
Der Richter nickte dem Henker zu und deutete mit dem Daumen nach unten.
»Nein!«, schrie Sebastján. Er war fast an der Mauer.
Nein , flüsterte Matteos Herz. Hektisch reckte er das Kinn, um es irgendwie unter das Seil zu schieben, doch seine Bemühungen zogen die Schlinge nur fester.
Hufgeklapper. Barcas sprengten um die Ecke. Sebastján hechtete an das Podium und stemmte sich hoch. Mit einem Satz war er beim Henker, der gerade zum Hebel greifen wollte, und stieß ihn zur Seite.
Lenard hob die Hand, ein fanatisches Flackern im Blick. Er zielte mit seinen knochigen Fingern auf Sebastján und fegte ihn mit einer schlichten Geste von der Mauer. Von unten hörte man den dumpfen Aufprall. Während sich der Henker auf die Beine mühte, trat Lenard in aller Ruhe zum Hebel.
Matteo keuchte auf.
Ein helles Sirren erfüllte die Luft, eine silberne Scheibe wirbelte herbei und alle gingen in Deckung. Die Menschen auf dem Platz, der Henker, der Richter und Bruder Lenard.
Nur Matteo konnte sich nicht ducken, das Geschoss raste direkt auf ihn zu, sein Atem stockte.
Mit einem Fauchen durchschnitt die Scheibe das Seil über seinem Kopf. Sie prallte am Galgen ab wie eine Flipperkugel, schoss weiter, sauste klingelnd gegen die Hausmauer gegenüber, peitschte gegen die Kante des Podiums und landete sicher in der Hand des Werfers.
Reylan.
Gesund und munter.
Zuletzt hatten sie einander in Nadors Lager bei Othyram gegenübergestanden, im Zelt, mitten im Kampfgeschehen, beide bespritzt mit Blut, bis Matteos Puls diesen Koloss von einem Mann niedergestreckt hatte.
Heute war Reylans Uniform sauber, das Waffenarsenal an seinem Gürtel auf Hochglanz poliert und er schien bester Laune zu sein.
»Haltet ein!«, rief er in die atemlose Stille und hob gebieterisch die Hand. Das Chakram funkelte im Sonnenlicht.
Langsam richteten sich die Leute wieder auf.
Reylan grinste süffisant. »Ihr werdet doch nicht den Prinzen hängen wollen?«
Den Prinzen? In Matteos Ohren rauschte es, jäh setzte Schwindel ein. Er hatte akzeptiert, in diesem Land als Sohn des Lords zu gelten, aber – seit wann war er ein Prinz? Seit wann, verflucht?
»Den Prinzen?«, wiederholten Lenard und der Richter mit einer Stimme.
Gleichmütig lenkte Reylan das Barca zwischen den Leuten hindurch zum Podium. »Ja. Das ist Prinz Khor, der Sohn unserer erhabenen Kaiserin Dylora. Sagt bloß, Ihr erkennt ihn nicht?«
Matteo schwankte. Jetzt war es soweit – ihm schlackerten die Knie, in seinem Magen brodelte die Übelkeit und er konnte nicht mehr zusammenhängend denken. Ihr Sohn, ihr Sohn! Oh Gott, sein Sohn! Nador und Dylora!
»Das ist eine infame Lüge!«, brüllte Bruder Lenard. »Prinz Khor ist tot!«
»Er wurde gerettet, ehrwürdiger Bruder.« Reylans Grinsen wurde noch breiter. Offensichtlich bereitete es ihm diebische Freude, dem Quellbruder eins auszuwischen. Führten die beiden eine kleine Privatfehde? »Seit Tagen bin ich ihm auf den Fersen und siehe da, wo finde ich ihn? In Eurer Gewalt! Ihr hättet beinahe den Lichtpuls getötet. Das wird Ihrer Majestät nicht gefallen.«
Unten vor dem Podium quälte sich Sebastján stöhnend auf die Knie. Seine Schläfe war aufgeplatzt, Blut
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