Der Puppen-Galgen
sie hatte die Zukunft hinter sich.
Die Enge des Sarges spürte sie nicht, obwohl die Arme die Sargwände berührten. Sie war ja doch eine Leiche. Zumindest für die anderen. In einigen Stunden würde man sie abholen und in die kleine Leichenhalle schaffen. Sie würde vielleicht noch das Läuten der Totenglocke hören.
Danach begann die Beerdigung.
Aber kaum jemand würde hinter dem Sarg hergehen. Sie hatte allein gelebt, nur für sich. Keine Verwandten gehabt, so gut wie keine Bekannten, erst recht keine Freunde.
Zumindest keine, die lebten.
Andere gab es schon.
Wunderbare Freunde. Ihre kleinen Begleiter durch das Leben. Freunde, die ihr Trost spendeten, auch wenn sie nicht reden konnten. Aber sie hatte sich in sie verliebt. Sie waren einmalig auf der Welt. Wie Menschen, denn jeder Freund war für sie ein Unikat.
Puppen!
Wunderschöne Puppen. Etwas zum Spielen, zum Vorführen und Liebhaben.
Auch jetzt, im scheintoten Zustand, kreisten ihre Gedanken um die Puppen. Wer würde sie bekommen? Wer würde sie erben? Wer würde sie sich nehmen?
Sie kannte keinen, aber der Haß war da. Ja, sie haßte die Menschen, die versuchten, ihre Puppen zu berühren oder sie wegzunehmen. Dafür waren sie nicht geschaffen worden, und Melle Fenton hatte noch vorgehabt, sie jahrelang zu verwöhnen, doch das war nicht mehr möglich.
Es hatte sie erwischt. Wie der Blitz aus heiterem Himmel. Plötzlich war sie in das Loch gefallen. In eine schwarze Tiefe, aus der es kein Entrinnen mehr gab.
Ewige Finsternis, in der es nur einen Gast gab, das Grauen.
Sie hätte geschrieen, geweint, getobt, nichts war möglich. Sie mußte auf dem Rücken liegen und das schleichende Grauen, das sich immer mehr verstärkte, ertragen.
Bis sie plötzlich etwas hörte!
Nicht im Sarg. Es war kein Geräusch, das sie abgegeben hatte. Aber das Geräusch war vorhanden. Sie hatte sich nicht geirrt, zudem es noch einmal aufklang.
Plötzlich verdoppelten sich ihre Gefühle. Melle Fenton drehte sich im Kreis, obwohl sie still lag. Als Scheintote wurde sie von einem Schwindel erfaßt. Normal war das nicht, aber auch die Geräusche draußen waren nicht normal.
Sie wußte nicht, was sie noch fühlen sollte. Sie lag im Sarg, bewegungslos. Und trotzdem bewegte sie sich. Da kam sie sich vor, als hätte man ihr einen Stoß versetzt, der sie irgendwohin in einen leeren Raum katapultierte. Es fiel ihr nicht leicht, das eigene Gefühl zu beschreiben, aber sie wurde damit fertig, denn seltsamerweise rief das Außengeräusch eine gewisse Freude in ihr hervor. Und Freude verband sie mit dem Wort Rettung.
Jemand war da.
Jemand kam näher. Durch die dünnen Sargwände konnten die Schritte deutlich gehört werden. Sie bewegten sich durch die Schreinerei. Mal waren sie lauter, dann wieder leiser. Jedenfalls blieben sie auch in den folgenden Sekunden.
Die Scheintote kriegte alles mit. Die Schritte entschieden sich nach einer Weile für eine bestimmte Richtung, und die führten zum Sarg hin.
Melle Fenton hörte es genau. Nichts gab es daran zu rütteln. Wer immer die Schreinerei betreten hatte, der hatte dies nicht ohne Grund getan.
Sie hörte, daß die Schritte vor dem Sarg endeten. An der rechten Seite und zum Greifen nahe. Nur die dünne Sargwand trennte die beiden so unterschiedlichen Gestalten.
Warum war der Besucher gekommen? Um sie noch einmal zu kontrollieren? Nein, das glaubte sie nicht. Man hatte sie allein gelassen.
Die Einsarger würden in der Kneipe sitzen oder in ihren Betten liegen.
Was sollten sie noch hier?
Melles Überlegungen stockten abrupt, als sich die unbekannte Person bückte. Sie sah nichts, aber sie ahnte, daß sich in den folgenden Sekunden einiges verändern würde.
Etwas pochte gegen den Sargdeckel. Nur für einen winzigen Augenblick.
Aber das Holz verleitete zu Echos, und die wurden von der Scheintoten wahrgenommen. Etwas kratzte über den Deckel und wanderte dabei weiter. Vom Fuß- bis zum Kopfende. Ein leises Schaben, unterbrochen von leisen Trommelgeräuschen.
Jemand war gekommen, um ihr eine Botschaft zu übermitteln. Auf einmal bekam sie wieder Hoffnung. Was konnte ihr als Scheintote schon Schlimmes passieren?
Nichts, gar nichts mehr. Vielleicht ein schneller, endgültiger Tod. Das wäre dann aber auch eine Erlösung gewesen. Dann hätte sie die verdammte Qual nicht mehr länger aushalten müssen.
Es wurde wieder still.
Da gab es nichts mehr. Die Geräusche waren verstummt. Auch keine Schritte mehr. Melle Fenton spürte die
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