Der Puppengräber
erzählte ihr Heinz Lukka dann, in der Nacht zum Montag sei er aufgewacht, weil draußen ein Mädchen geschrien hätte. Er sei aufgestanden, habe aus dem Fenster geschaut, jedoch nichts gesehen in der Dunkelheit.
Daraufhin verbrannte Trude die kleine Tasche samt Inhalt im Küchenherd, war glücklich und dankbar, dass sie vergessen hatte, Jakob davon zu erzählen, und immer noch überzeugt, dass Ben sie draußen gefunden und sich die Hände am Stacheldraht der eingezäunten Wiese aufgerissen hatte. Die Wiese gehörte zu ihrem ehemaligenGrundstück an der Bachstraße. Ihn zog es immer noch dorthin.
Aber wer hätte ihr geglaubt, dass er in der Nacht zum Montag nur harmlos auf der Wiese gespielt hatte? Jeder hätte doch angenommen, er habe Svenja Krahl die Handtasche entrissen. Und jeder hätte sich gefragt, warum das Mädchen den Vorfall nicht bei der Polizei gemeldet habe. Und wenn Heinz Lukka dann erklärt hätte, er habe ein Mädchen schreien hören …
Nach diesem Ereignis im Juli hatte Trude jeden Tag die Zeitung kontrolliert, keine Zeile über Svenja Krahl gefunden und sich allmählich wieder beruhigt.
An dem Mittwochmorgen im August fand sie einen Artikel über Marlene Jensen, die seit Sonntag von ihren Eltern vermisst wurde. Gehört davon hatte Trude schon am Dienstag beim Einkaufen. Renate Kleu hatte ihr erzählt, dass Marlene sich am Samstagabend in der Diskothek in Lohberg mit zwei jungen Männern amüsiert, kräftig auf ihren Vater geflucht und es strikt abgelehnt habe, sich von Dieter mit zurück ins Dorf nehmen zu lassen. Von den Schlägen, die ihr ältester Sohn hatte einstecken müssen, hatte Renate Kleu nicht gesprochen.
Von Thea Kreßmann hatte Trude zusätzlich erfahren, dass auch Albert die Heimfahrt angeboten und sich nachts um eins noch einmal vergebens nach Lohberg bemüht hatte. Außerdem wusste Thea Kreßmann, dass Erich Jensen für das gesamte Wochenende einen Hausarrest verhängt hatte. Thea war überzeugt, Marlene sei ausgerissen, um Erich zu zeigen, dass sie sich nicht alles bieten ließ.
Auch in der Zeitung war die Rede von häuslichen Differenzen. Es war ein kleines Foto dabei, eine Beschreibung der Kleidung – Jeans mit auffälligen Nieten, hellblaue Windjacke. Der Artikel endete mit der eindringlichenBitte von Maria Jensen, Marlene möge doch endlich heimkommen, man sei ihr nicht böse. Darüber hinaus gab es nur noch einen Appell an die beiden jungen Männer, in deren Wagen Marlene gestiegen war, sich in der Apotheke oder bei der Polizei zu melden und Auskunft über den Verbleib des Mädchens zu geben.
Gemeint war die örtliche Polizeistation in Lohberg. Erich Jensen kannte den Dienststellenleiter persönlich, sie waren beide Mitglieder derselben Partei. Der Apotheker wollte kein Aufsehen, er war sogar dagegen gewesen, dass seine Frau die Presse informierte. Maria Jensen hatte sich mit Unterstützung von Bruder und Schwägerin durchgesetzt. Angesichts der Ausgangssituation schien es für die Polizei in Lohberg eine alltägliche Sache. Grund zur Besorgnis sah man nicht. Dass bereits vier Wochen zuvor ein gleichaltriges Mädchen verschwunden war, wusste niemand.
Das wusste auch Trude nicht mit Sicherheit, weil sie nichts unternommen hatte aus Furcht vor dummen Fragen oder anderen Konsequenzen. Trude hatte sich nur den Kopf zerbrochen, ob Svenja Krahl das Mädchen gewesen war, das Heinz Lukka hatte schreien hören. Wenn ja, ob sie vor Schreck geschrien hatte oder vor Angst oder aus anderen Gründen.
Um Marlene Jensen machte sie sich nur halb so viele Gedanken. Sie überflog den Zeitungsartikel rasch, nachdem sie das Frühstücksgeschirr abgewaschen hatte. Dann faltete sie die Zeitung zusammen und trug sie ins Wohnzimmer, damit Jakob abends einen Blick hineinwerfen konnte. Morgens kam er nur selten dazu. Meist wurde die Zeitung erst geliefert, wenn er schon aus dem Haus war. Es hatte viele Vorteile gehabt, im April 1987 den Hof von der Bachstraße ins freie Feld zu verlegen. Die Zeitung war ein kleiner Nachteil.
Kurz vor neun hörte Trude die Kellertür klappen. Ben kam grundsätzlich durch den Keller. Sie hatte ihm verboten, mit seinen erdverschmierten Stiefeln durch die oberen Räume zu laufen. Und einfache Verbote merkte er sich recht gut. Auch seinen Spaten ließ er immer unten.
Er war die ganze Nacht unterwegs gewesen. Seit dem Wochenende im Juli hatte er keine Nacht mehr in seinem Bett verbracht. Wenn er zum Abendessen nach Hause kam – was er meistens nicht tat,
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