Der Puppengräber
weil er befürchtete, festgehalten zu werden –, verschwand er, kaum dass der Teller geleert war. Trude sah ihn erst am nächsten Morgen wieder, wenn sein leerer Magen ihn heimtrieb.
Zu hören war er auf Socken nicht, als er die Treppe heraufkam. Unvermittelt tauchte er im Türrahmen auf und füllte ihn fast aus. Schultern wie ein Ringer, Fäuste wie Schmiedehämmer, eine Kraft in den Armen, die es ihm erlaubt hätte, einem Ochsen mit einem Schlag das Genick zu brechen, wäre er nur auf die Idee gekommen, einen Ochsen zu schlagen. Aber er war friedfertig, sanft wie ein Lamm, davon war Trude trotz unzähliger unliebsamer Vorfälle fest überzeugt.
Er kam in die Küche, schmutzig wie einer, der stundenlang im Dreck gewühlt hat. Das Fernglas baumelte am Riemen vor seiner Brust. Er trug es stets bei sich, wenn er draußen war, obwohl es ihm nachts nicht viel nutzte.
«Nein, nein», sagte Trude, als er sich an den Tisch setzen wollte, «erst Hände waschen. Das weißt du doch.»
Natürlich wusste er es, aber er versuchte immer, sich davor zu drücken. Nicht weil er das Wasser scheute, nur die Schmerzen, wenn Trude ihn verarztete. Seine Hände und Unterarme waren mit alten Narben, frischen Kratzern und Blasen übersät, die er sich regelmäßig an Disteln und Nesseln, am Stacheldraht und anderen Hindernissen holte.
Widerstandslos ließ er sie sich von seiner Mutter unter den Wasserhahn halten, ließ Trude schrubben und kontrollieren, ob frische Wunden dazugekommen waren, die versorgt werden mussten. Trude fand einen Holzsplitter. Er steckte tief in der Kuppe des rechten Mittelfingers und ließ sich allein mit der Pinzette nicht fassen. Sie musste mit einer Nadel nachhelfen. Er zog zischend die Luft ein.
«Wo hast du dir den wieder geholt?» Sie fragte aus Gewohnheit. Mit einer Antwort rechnete sie nicht. Sein Sprachschatz war äußerst dürftig, umfasste nur wenige deutlich gesprochene Worte. Wenn man so vertraut mit ihm war wie Trude, konnte man mit etwas gutem Willen interpretieren, was er von sich gab. Trude war sicher, dass sie ihn immer verstand. Man musste halt genau hinhören, ob er fragte, Auskunft oder eine Bestätigung gab.
Nachdem der Splitter aus dem Finger gezogen war, lutschte er an der blutenden Kuppe, setzte sich an den Tisch und äugte erwartungsvoll zum Schrank. Trude holte Brot heraus, bestrich ein paar dicke Scheiben mit Butter und Mettwurst, füllte eine große Aluminiumtasse mit Milch und stellte alles vor ihn hin. Während er sich über sein Frühstück hermachte, wusch sie das Messer vom Essbesteck ab und legte es zurück in das Schrankfach, verschloss die Schranktür und steckte den Schlüssel in die Kitteltasche.
In Windeseile hatte er seinen Teller und die Tasse geleert, danach verließ er die Küche. Als Trude wenig später nach ihm schaute, lag er in seiner schmutzigen Kleidung auf dem Bett und schlief. Kurz nach eins kam er herunter, ließ sich ein frisches Hemd und eine saubere Hose anziehen, einen Teller füllen. Er aß und verschwand durch den Keller.
Seit Juli blieb die Kellertür für ihn Tag und Nachtoffen. Einmal in den letzten Wochen hatte Jakob sie geschlossen. Da hatte er versucht, sich durch ein Kellerfenster ins Freie zu zwängen. Er war stecken geblieben, hatte gewimmert und gejault wie ein junger Hund, bis Trude und Jakob aufwachten und ihn mit Mühe befreiten. Die Druckstellen, die der eiserne Fensterrahmen in seinem Fleisch hinterlassen hatte, waren immer noch zu sehen.
Als Jakob um sieben von der Arbeit kam, war Ben noch unterwegs. Trude hatte sein Bett frisch bezogen, putzte das Fenster in seinem Zimmer, hielt dabei ein wenig Ausschau und hoffte, dass er für die Nacht heimkam.
Später saß sie mit Jakob im Wohnzimmer. Sie unterhielten sich über Marlene Jensen. Trude war ausnahmsweise einmal einer Meinung mit Thea Kreßmann. Jakob mochte nicht so recht glauben, dass Erichs Tochter ausgerissen war. «Mal für eine Nacht», meinte er. «Aber ein paar Tage, wo soll sie denn sein?»
«Vielleicht bei den Männern, die sie in der Diskothek kennengelernt hat», antwortete Trude. «Erich ist wirklich zu streng. Antonia sagt das auch immer. Ich könnte mir schon vorstellen, dass sie ihm einen Denkzettel verpassen will.»
17. AUGUST 1995
Am Donnerstag verließ Jakob das Haus wie gewöhnlich um sieben. Er holte den Wagen aus der Scheune und fuhr das erste Stück auf einem Weg, der so schmal war, dass zwei Fahrzeuge nur mit Mühe aneinander vorbei kamen. Nach etwa
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