Der Puppengräber
sechshundert Metern kam die erste Kreuzung, geradeaus verlief der schmale Weg noch zweihundertMeter weiter zwischen Gärten und Feldern, ehe er auf die Bachstraße traf.
Jakob bog nach links ab in den breiten Weg, der parallel zur Bach- und zur Landstraße nach Lohberg führte. Er fuhr die zwei Kilometer bis zur nächsten Kreuzung bei Lukkas Bungalow mit schwerem Herzen. Für ihn war dieses Stück immer die schwierigste Strecke. Sie führte vorbei an seinem ehemaligen Besitz, an unzähligen Erinnerungen.
Niemand gab so leicht einen Platz auf, an dem er geboren war, an dem er die Kindheit und Jugend verbracht hatte und danach noch so viele Jahre, in denen er hier geträumt, geliebt, gehofft, geschwitzt und gelitten hatte. Diesen Ort sah er nun unerreichbar hinter zwei Meter hohem Stacheldraht liegen. Jedes Mal war Jakob erleichtert, wenn er den Stacheldraht weit hinter sich gelassen hatte und Heinz Lukkas Bungalow erreichte.
An diesem Morgen traf er bei Lukkas Grundstück mit seinem Freund Paul Lässler zusammen und hielt kurz an, um guten Tag zu sagen und ein paar Worte zu reden. Paul war als Bruder von Maria und Onkel von Marlene Jensen in großer Sorge und wütend auf seinen Schwager.
«Ich verstehe nicht, was Erich sich dabei denkt», schimpfte Paul. «An seiner Stelle hätte ich längst alle Hebel in Bewegung gesetzt, und er hält die Polizei zurück. Hat Angst vor einem Skandal. Der einzige Skandal bei der Sache sind seine Erziehungsmethoden. Er ist in der falschen Partei, von sozialer Demokratie hat er keine Ahnung. Maria weint sich die Augen aus dem Kopf.»
«Das glaube ich», sagte Jakob.
Paul schimpfte weiter, nun auf seine Nichte: «Das dumme Ding. Warum hat sie nicht auf Albert gewartet? Er ist extra nochmal zurückgefahren, um sie abzuholen, nachdem er Annette heimgebracht hatte.»
«Das hat Trude schon erzählt», sagte Jakob. «Aber warum hat Albert sie denn nicht gleich mitgenommen?»
Paul schaute zu Boden und zuckte mit den Achseln. «Es wäre ihr noch zu früh, hat sie gesagt. Und mit Dieter zu fahren war ihr wohl zu riskant.»
Das bezog Jakob auf den fehlenden Führerschein. «Ich begreife auch nicht, dass Bruno den Jungen jetzt schon immer fahren lässt», sagte er. «Die paar Monate bis Oktober, dann wird er achtzehn. Da müssten sie keine Angst haben, dass er erwischt wird.»
«Bisher ist er nicht erwischt worden», erklärte Paul. «Er fährt ganz manierlich.» Dann wurde er wieder heftig: «Aber er kann seine Finger nicht bei sich behalten. Da hat sie vermutlich gedacht, wenn sie mit zwei Männern fährt, ist es sicherer. Und das war ein Irrtum. Ich halte jede Wette, Jakob, sie ist mit denen nicht über alle Berge. So ein Typ ist sie nicht. Da ist was passiert.»
Auch an diesem Donnerstag war sein Sohn unterwegs, als Jakob abends das Haus betrat. Trude wischte mit einem trockenen Lappen über das Fenster in Bens Zimmer und hielt dabei Ausschau nach ihm. Beim Essen saßen sie allein am Tisch. Jakob berichtete von dem Gespräch mit Paul und endete mit den Worten: «Paul meint, Erichs Tochter sei was passiert.»
Trude stellte das benutzte Geschirr zusammen, füllte die Reste der Mahlzeit in einen Topf und stellte ihn in den Kühlschrank.
«Hoffen wir», fügte Jakob düster hinzu, «dass Paul sich irrt.»
Da fuhr Trude zu ihm herum: «Wieso wir? Ich hoffe es für das Mädchen, für Maria und Erich. Für uns muss ich nichts hoffen. Wir haben nichts damit zu tun!»
Jakob hob begütigend die Hand. «So hab ich es auch nicht gemeint.» Nach ein paar Sekunden fuhr er zögerndfort: «Ich dachte nur, Ben sollte mal ein paar Nächte im Haus bleiben.»
«Warum?», fragte Trude aufgebracht. «Sollen wir ihn einsperren, weil ein dummes Ding den Heimweg nicht findet? Sie ist in Lohberg verschwunden, nicht hier. Und er hat doch nur das da draußen. Was hat er denn sonst von seinem Leben?»
ALTE GESCHICHTEN
So ganz von ungefähr war Trudes Mutterliebe im März 79 nicht erwacht. Im ersten Augenblick war es auch nicht ausschließlich Liebe, es war mehr Scham und Instinkt. Derselbe Instinkt, der ein Tier veranlasste, sein hilfloses Junges zu verteidigen. Vielleicht hatte es daran gelegen, dass der Vorschlag, diesen Professor aufzusuchen, ausgerechnet von Thea Kreßmann gekommen war. Und wenn es daran lag, kam einiges zusammen.
Schon auf der Hinfahrt spürte Trude ein leichtes Brennen in den Eingeweiden. Es war still im Zugabteil, kaum Mitreisende. Ben saß auf dem Fensterplatz, eingeschüchtert
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