Der Puppengräber
von der Schnelligkeit und all den neuen Eindrücken, betrachtete er misstrauisch die vorbeihuschende Landschaft. Dörfer, ab und zu der Bahnhof einer Kleinstadt, viel freies Land, Wiesen, Äcker, grasende Kühe, eine Pferdekoppel und weidende Schafe am Bahndamm.
«Schäfchen zur Linken, wird Freude dir winken», hatte Trudes Mutter früher oft gesagt. «Schäfchen zur Rechten, wird Freude dir brechen.» Auf der Rückfahrt wären sie auf der rechten Seite.
Trude konnte nicht denken, war wie zugeschnürt. DasBrennen in den Eingeweiden, der hohl dumpfe Herzschlag, es war nackte Furcht. Die Schafe am Bahndamm waren ein böses Omen.
Schafe waren 1943 der kleinen Christa, Toni von Burgs jüngster Schwester, zum Verhängnis geworden. Christa von Burg und Thea Kreßmann. Zwei Namen und ein Rattenschwanz an Zusammenhängen.
Thea Kreßmann war eine geborene Ahlsen. Und Theas Vater Wilhelm war immer ein Patriot gewesen. Er hatte eine Menge gegeben und getan für sein Vaterland. Im Ersten Weltkrieg von der Schulbank an die Westfront. Bei irgendeinem Heldenstück hatte er sein linkes Bein zur Hälfte und den linken Arm ganz verloren, hatte einen Orden und eine mickrige Rente bekommen. Und erst einmal keine Frau.
Die alte Gerta Franken, die noch älter war als das Jahrhundert und eine Nachbarin von Trude und Jakob, erinnerte sich lebhaft an all diese Dinge. Gerta Franken hatte sich in der ersten Märzwoche 79 einen Nachmittag Zeit genommen, Trude über den Gartenzaun hinweg in die Hintergründe des Beziehungsgeflechts einzuweihen. Denn Trude, die in Lohberg geboren und aufgewachsen war, hatte keine Ahnung von den diversen Banden und Stricken und wie das alles zusammenhing.
Warum zum Beispiel Toni und Illa von Burg Richard und Thea Kreßmann schon immer so distanziert begegnet waren, lange ehe der Verdacht aufkam, Richard Kreßmann könnte der Unglücksfahrer gewesen sein, der ihre jüngste Tochter auf dem Schulweg überfuhr und anschließend flüchtete. Warum Toni und Illa sogar in einem Notfall mit dem Rezept für ein Medikament nach Lohberg fuhren, statt es bei Erich Jensen einzulösen, obwohl Erich nur zwei- oder dreimal mit Thea ausgegangen war und wirklich nichts dafür konnte. Aber verschiedeneWunden saßen tief und wurden von einer Generation an die nächste vererbt.
In den zwanziger Jahren und Anfang der dreißiger war Wilhelm Ahlsen ein armes Schwein gewesen. Zwangsläufig ledig geblieben. Nicht nur wegen des fehlenden Armes und des zur Hälfte fehlenden Beines, er machte auch sonst nicht viel her. Und was wollte er schon mit seiner mickrigen Rente, davon konnte er allein am Hungertuch nagen.
Aber ab 1933 ging es rapide aufwärts mit ihm. Patrioten und Kriegshelden waren wieder gefragt, sofern sie rein arisch waren. Das war Wilhelm Ahlsen, er konnte es beweisen. Und dann machte er Karriere. Ortsgruppenleiter! Um von Haus zu Haus zu humpeln, die Parolen vom Glanze des Reiches zu proklamieren, wenn erst der glorreiche Krieg gewonnen war, und den Leuten auf die Finger zu schauen, dazu war er noch gut.
Einmal, erzählte Gerta Franken, hätte Wilhelm Ahlsen in ihrer Küche gesessen und gedroht. Wirklich und wahrhaftig gedroht, sie solle nur hübsch vorsichtig sein und nicht immer das Maul so weit aufreißen. Von wegen: Warum sich denn kein Schwein erbarmt und den Gefreiten Adolf im Ersten Weltkrieg über den Haufen geschossen hätte. Sonst würde es ihr am Ende ergehen wie den Sterns und den Goldheims.
Die waren abgeholt worden von Wilhelm Ahlsen und zwei S A-Männern . Man hörte nie wieder von ihnen. Es ging allerdings das Gerücht, die Tochter der Sterns, die Edith, sei davongekommen. Aber auch von ihr hörte man nie mehr.
Und in das Haus der Familie Stern war Wilhelm Ahlsen eingezogen. Er brauchte eine geeignete Residenz, auch seine monatliche mickrige Rente wurde aus der Staatskasse aufgestockt. Kopfgeld! Für solche, nach denenkein Hahn mehr krähte. Da fand sich dann sogar noch, obwohl er schon über vierzig war, eine dumme Gans, die ihm aufs Standesamt folgte. Aber das war schon fast bei Kriegsende, und vier Jahre später wurde Thea geboren.
Und was nun die von Burgs anging … Gerta Franken wusste nicht, wie viel Trude bekannt war, und erklärte es ausführlich, damit sie auch alles begriff. Es waren ursprünglich drei bildhübsche Kinder gewesen. Toni war ja immer noch ein Mannsbild wie aus dem Märchenbuch. Auch seine ältere Schwester Heidemarie hatte man nie als hässlich bezeichnen können. Gerta
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