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Der Rabbi

Der Rabbi

Titel: Der Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
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Hieronymus von Hendrik van Somer. Der Heilige war ein alter Mann mit runzligen Wangen, kahlem Kopf und einer Hakennase, einem langen Bart und wilden Augen, den wildesten Augen, die sie je gesehen hatte, und plötzlich fiel ihr ein, wie Michael ihr seinen Großvater beschrieben hatte.
    Sie verließ das Gebäude auf der anderen Seite, und sobald sie aus dem Tor trat, wußte sie genau, wo sie sich befand.
    Da war der alte Galen Turm und der Hof und die Bäume und die steinernen Bänke, die meisten von ihnen jetzt schneebedeckt, aber eine blankgefegt. Sie setzte sich und hatte Severance Hill vor sich, wo ein einsamer Schifahrer am Hang zappelte und schließlich stürzte. Sie erinnerte sich an den Hügel im Mai, an den Tree Planting Day und an Debbie Marcus in einer Art Leintuch, als Vestalin verkleidet.
    Ein Mann in schwarzem Überzieher und eine Frau in grauem Mantel mit Fuchskragen kamen aus dem Verwaltungsgebäude. Leslie hielt ihn auf Grund seiner roten Gesichtsfarbe für einen Trinker, ohne auch nur das geringste über ihn zu wissen. »Das ist offenbar die einzige schneefreie Bank«, sagte die Frau zu ihrem Mann.
    »Es ist Platz genug«, sagte Leslie, zur Seite rückend. Der Mann setzte sich ans andere Ende der Bank, die Frau in die Mitte. »Wir besuchen unsere Tochter«, sagte sie. »Eine Überraschung.« Sie musterte Leslie.
    »Besuchen Sie auch eines von den Mädchen hier?«
    »Nein«, sagte Leslie. »Ich war eben im Museum.« »Wo ist denn das Museum?« fragte der Mann. Sie wies auf das Gebäude.
    »Lauter so modernes Zeug?« fragte der Mann. »Arrangements vom Schuttablagerungsplatz und gerahmte Fetzen?«
    Noch ehe Leslie antworten konnte, kam ein Mädchen auf sie zugelaufen, ein blühendes dunkelhaariges Ding in Blue jeans und Windjacke. »Was ist los mit euch?« sagte sie und küßte die Frau, die, ebenso wie ihr Mann, aufgestanden war, auf die Wange.
    »Wir wollten dich überraschen«, sagte die Frau.
    »Das ist euch gelungen.« Sie entfernten sich von der Bank. »Die Sache ist nur die, ich habe Besuch unten im Gasthof, nur bis morgen. Jack Voorsanger, der junge Mann, von dem ich euch geschrieben habe.«
    »Hab nie was von einem Jack Voorsanger gehört«, sagte der Mann.
    »Können wir denn nicht alle beisammen sein?«
    »Aber ja, natürlich können wir das«, sagte das Mädchen herzlich. Sie entfernten sich weiter, das Mädchen hastig redend und die Eltern mit ihr zugeneigten Köpfen lauschend.
    Leslie schaute zum Turm auf und erinnerte sich des Glockenspiels, das jedesmal vor dem Gottesdienst und vor und nach dem Abendessen erklungen war. Immer hatte es mit demselben Lied geendet - was war es nur gewesen? Es fiel ihr nicht mehr ein. Sie blieb noch eine Weile sitzen und hoffte, es würde erklingen. Dann stand sie auf, plötzlich eingedenk der Worte jenes Jungen, von dem sie den ersten Kuß ihres Lebens bekommen hatte; ein großer, sehr belesener Junge, Musterschüler aus der Sonntagsschule ihres Vaters; nachdem sie sich bei ihm beklagt hatte, daß sie das Küssen weder besonders unangenehm noch besonders angenehm hatte finden können, hatte er ärgerlich gesagt: »Was hast du dir erwartet? Ein Glockenspiel?«
    Sie ging zurück zum Bahnhof, holte ihre Reisetasche und löste eine Karte, und etwa zwanzig Minuten später fuhr der New England States ein und sah fast genauso aus wie damals, als er sie in den Ferien nach Hause gefahren hatte, nur ein bißchen schäbiger, wie alle Züge heutzutage.
    Gleich nachdem sie dem Schaffner ihre Karte gegeben hatte, schlief sie ein. Sie schlummerte mit kurzen Unterbrechungen, und als sie das letztemal erwachte, waren es nur noch acht Minuten bis Hartford, und mit einem leichten Triumphgefühl erinnerte sie sich nun auch wieder des Liedes: »The Queen's Change« hatte es geheißen.
    Als der Vater auf ihr Läuten die Tür öffnete, sahen sie einander erstaunt an. Er wunderte sich darüber, daß sie da war, und sie wunderte sich über seinen Aufzug. Er trug ein marineblaues Leibchen und zerknitterte schwarze Hosen voll grauweißer Streifen und Klümpchen von irgend etwas, vielleicht von Wachs. Sein weiches weißes Haar war in Unordnung.
    »Ach, du bist's«, sagte er. »Komm doch herein. Bist du allein?« »Ja.«
    Sie ging an ihm vorbei ins Wohnzimmer. »Neue Möbel«, sagte sie.
    »Hab sie selbst gekauft.« Er nahm ihr den Mantel ab und hängte ihn in den Schrank. Einen peinlichen Augenblick lang standen sie da und sahen einander an.
    »Was machst du denn eigentlich?« fragte

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