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Der Rabbi

Der Rabbi

Titel: Der Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
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den sie ihm hingestellt hatte, und kostete. »Möchtest du mit mir darüber sprechen?«
    »Ich glaube nicht«, sagte sie. »Wie du willst.«
    Sie fühlte einen ersten Anflug von Zorn in sich aufsteigen. »Vielleicht möchtest du nach meinem Mann und meinen Kindern fragen. Sie sind schließlich deine Enkel.«
    »Wie geht's deiner Familie?«
    »Gut.«
     
    Ein paar Minuten lang sprachen sie nichts, bis sie mit dem Kaffee und dem Toast fertig waren und für Hände und Mund keine Beschäftigung mehr hatten.
    Dann versuchte sie es nochmals. »Ich muß Max und Rachel zeigen, wie man Wachshände macht«, sagte sie. »Besser wär's noch, wenn ich sie herbringen könnte, und du zeigst es ihnen.« »Gut«, sagte er mit wenig Begeisterung. »Wann habe ich sie zum letztenmal gesehen?
    Vor zwei Jahren?«
    »Vor achtzehn Monaten. Im vorigen Sommer. Der letzte Besuch war kein schönes Erlebnis für sie, Vater. Sie lieben ihren Großvater Abe sehr, und sie könnten dich genauso lieben, wenn du ihnen die Möglichkeit geben wolltest. Es hat sie sehr erschüttert, euch beide miteinander sprechen zu hören.«
    »Dieser Mensch!« sagte ihr Vater eigensinnig. »Ich verstehe noch immer nicht, wie du auf die Idee kommen konntest, ich hätte irgendein Interesse daran, ihn bei mir zu Gast zu haben. Wir haben nichts gemeinsam. Nichts.«
    Sie schwieg und erinnerte sich eines grauenhaften Nachmittags, an dem jeder verstört und zutiefst verletzt gewesen war.
    »Kann ich in meinem alten Zimmer schlafen?« fragte sie ihren Vater schließlich.
    »Nein, nein«, wehrte er ab. »Das ist voll mit Schachteln und allerhand Kram. Geh ins Gästezimmer. Wir sehen darauf, daß dort immer frisch bezogen ist.«
    »Gästezimmer?«
     
    »Zweite Tür links, wenn du die Stiege hinaufkommst.« Tante Sallys Zimmer.
    »Im Wäscheschrank findest du frische Handtücher«, sagte der Vater.
    »Danke.«
    »Brauchst du ... hm ... geistlichen Beistand?« Handtücher und geistlicher Beistand dankend abgelehnt, dachte sie.
    »Nein, danke, Vater.«
    »Es ist niemals zu spät. Niemals und für nichts - durch Jesus. Ganz gleich, wie weit und wie lange wir in die Irre gegangen sind.«
    Sie sagte nichts und machte nur eine kleine bittende Geste - so verhalten, daß er sie vielleicht gar nicht bemerkt hatte.
    »Auch jetzt noch, nach so langer Zeit. Es ist mir gleichgültig, wie lange du mit ihm verheiratet gewesen bist. Das Mädchen, das in diesem Haus aufgewachsen ist, kann Christus nicht verleugnen - das kann ich nicht glauben.«
    »Gute Nacht, Vater«, sagte sie erschöpft. Sie stand auf, trug ihre Reisetasche hinauf, schaltete das Licht ein und verschloß die Zimmertür hinter sich. Sie lehnte dann lange mit dem Rücken an der Tür, ins Zimmer blickend, das sie so gut in Erinnerung hatte aus vielen Nächten, in denen sie sich im Bett ihrer Tante verkrochen hatte und eingeschlafen war, an den ausgetrockneten, altjüngferlichen Körper geschmiegt. Sie wußte noch genau, wie der Körper der Tante sich angefühlt hatte, ja selbst den Geruch wußte sie noch - eine Mischung von Körpergeruch und abgestandenem Rosenduft, wahrscheinlich von einer parfümierten Seife, die Tante Sally im geheimen verwendet hatte.
     
    Sie zog ihr Nachthemd an und fragte sich, ob man wohl noch immer das Gas anzünden mußte, wenn man genügend heißes Wasser für das Bad haben wollte, aber sie war zu müde, um es auszuprobieren. Sie hörte, wie er die Stiegen heraufkam, hörte sein zögerndes Klopfen.
    »Du läufst davon, wenn ich mit dir zu sprechen versuche.«
    »Ich bin müde«, sagte sie, ohne zu öffnen.
    »Kannst du behaupten, daß du dich wirklich als zu ihnen gehörig fühlst?« fragte er.
    Sie schwieg.
    »Bist du Jüdin, Leslie?« Aber sie gab keine Antwort. »Kannst du mir sagen, daß du Jüdin bist?«
    Geh weg, dachte sie, auf dem Bett sitzend, in dem ihre Tante gestorben war.
    Nach einer Weile hörte sie, wie er in sein Zimmer ging, und sie langte nach der Schnur, um das Licht zu löschen. Doch statt gleich ins Bett zu gehen, saß sie noch lange beim Fenster auf dem Fußboden, preßte die Brust ans Fensterbrett und das Gesicht an die kalte Scheibe, wie sie es in der Kindheit getan hatte, und schaute durch das Dunkel des Glases hinunter auf die Straße, die einmal zu ihrem Gefängnis gehört hatte.
    Als sie einander am Morgen beim Frühstück begegneten, taten beide, als wäre am vergangenen Abend nichts geschehen. Sie briet für ihn Schinken mit Eiern, und er aß mit Appetit, ja beinahe mit

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