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Der Rabbi

Der Rabbi

Titel: Der Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
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Gier. Als sie ihm Kaffee eingoß, sagte er mit einem kleinen Räuspern: »Leider habe ich heute vormittag in der Kirche eine Besprechung nach der anderen.«
    »Dann ist es wohl besser, wenn ich mich gleich jetzt von dir verabschiede, Vater«, sagte sie. »Ich habe mich entschlossen, mit einem frühen Zug zu fahren.«
    »Ja? Nun gut«, sagte er.
    Bevor er aus dem Haus ging, kam er noch einmal in ihr Zimmer und überreichte ihr zwei gelbe Kerzen. »Ein kleines Geschenk«, sagte er.
    Nachdem er gegangen war, rief sie telephonisch ein Taxi herbei und ließ sich zum Bahnhof fahren. Dort kaufte sie eine Taschenbuchauswahl von Robert Frost und las darin zwanzig Minuten lang. Fünf Minuten vor Einfahrt des Zuges hob sie ihre Reisetasche auf die Warteraumbank, öffnete sie und nahm die gelben Kerzen heraus, um Platz für das Buch zu schaffen; dabei zerbrach ihr die eine in der Hand, das gelbe Wachs bröckelte ab und ließ den Fehler sichtbar werden: einen uneingeschmolzenen weißen Wachskern im Innern der Kerze. Angewidert säuberte sie die Reisetasche, so gut sie konnte, von den Wachskrümeln und warf diese zusammen mit der zerbrochenen Kerze in den Abfallkorb. Im Zug begann sie darüber nachzudenken, was sie mit der verbleibenden anfangen könnte; schließlich, während sie Stamford durchfuhren, holte sie die Kerze aus ihrer Tasche und ließ sie in den Spalt zwischen Armlehne und Waggonwand unter dem Fenster fallen. Danach war ihr etwas wohler, ohne daß sie genau wußte, warum.
     
    Nun näherten sie sich allmählich New York, und Leslie sah die Bilder am Fenster vorüberziehen wie eine TV-Sendung für Stadtplanung. Aus dem Schnee neben den Gleisen stieg Nebel in grauen Schwaden, und sie dachte an viele Morgen in San Francisco, da sie, aus dem Fenster blickend, die Erde wüst und leer gesehen hatte, und Finsternis war über dem Antlitz der Tiefe gelegen, und der Geist Gottes war aufgestiegen über dem Antlitz der Erde und dem Antlitz des Wassers, aufgestiegen als perlmutterfarbener Nebel.
     
    San Francisco, Kalifornien Januar 1948

31
    Das Haus, ein schmales zweigeschossiges graues Steinhaus mit einem weißen Zaun rundum, klammerte sich mit seinen Fundamenten an den Abhang eines sehr steilen Berges über der San Francisco Bay. Der Mann - untersetzt, vierschrötig und in mittleren Jahren - stand mit einem Fuß auf dem Trittbrett seines schwarzen, mit Seilen, Leitern und farbverkrusteten Kübeln beladenen Lieferwagens. Er machte einen etwas bärbeißig-rechthaberischen Eindruck und trug einen sauberen, aber farbbespritzten weißen Arbeitsanzug und eine Malerkappe, auf der DUTCH BOY geschrieben stand.
    »So«, sagte er in volltönendem Baß, mit Befriedigung, aber ohne Lächeln, »Sie haben es also geschafft. Glück, daß Sie mich zu Hause getroffen haben. Ich wollte gerade zur Arbeit fahren.« »Können Sie uns sagen, wie wir zu unserer neuen Wohnung kommen, Mr. Golden?«
    fragte Michael.
    »Das finden Sie nie. Es ist sehr weit. Ich fahre mit dem Lieferwagen voraus, und Sie bleiben hinter mir.«
    »Ich will Sie aber nicht in Ihrer Arbeit stören«, sagte Michael. »Ich laß mich Tag für Tag von diesen Tempel-Geschäften in meiner Arbeit stören. Sonst würde doch hier überhaupt nichts geschehen. Haben Sie schon einmal erlebt, daß einer von den Machern was tut, von den großen Herren, die immer nur reden und reden und reden? Die Arbeit bleibt immer an unsereinem hängen.« Er öffnete die Wagentür und stieg ein. Sein Tritt aufs Gaspedal war schwer; der Motor sprang heulend an. »Fahren Sie mir nach«, sagte er.
    Sie fuhren ihm nach und dankten Gott, daß sie es konnten, denn Michael hatte Schwierigkeiten mit den Verkehrsampeln, die für einen Oststaatler an den unmöglichsten Stellen angebracht waren. Die Fahrt dauerte sehr lange. »Geht das so weiter bis Oregon?« fragte Leslie, wobei sie ihre Stimme dämpfte, als säße Mr. Golden im Fond ihres Wagens und nicht vorn in seinem eigenen. Aber schließlich bogen sie doch in eine Straße voll niedlicher Reihenhäuser hinter ganz kurz gestutztem Rasen ein. »Michael«, sagte Leslie, »da ist ja eines wie das andere.« Straße um Straße die gleichen Häuser, auf gleiche Weise in gleich große Parzellen gesetzt.
    »Die Farben sind verschieden«, meinte Michael.
    Das Haus, vor dem Mr. Golden anhielt, war grün und stand zwischen einem weißen zur rechten und einem blauen zur linken Seite.
    Es umschloß drei Schlafräume, ein geräumiges Wohnzimmer, eine Eßnische, eine Küche

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