Der Rabbi
ich Herzklopfen gehabt.«
»Das war von deinem Schlafzimmerfenster.«
»Manchmal auch von Helens Fenster. Sie war so hübsch, daß einem die Sprache wegblieb, damals.«
»Aber nein, sie konnte sich doch mit dir nicht vergleichen. Nicht einmal heute.«
»Ach, heute! Schau mich doch nur an.« Sie seufzte. »Es kommt einem vor, als wär es gestern gewesen, aber schau mich doch an: graue Haare und schon das vierte Enkelkind.«
»Schön.« Unter dem Tisch legte er seine Hand auf ihre Schenkel.
»Du bist eine sehr schöne Frau.«
»Hör doch auf«, sagte sie, aber er merkte wohl, daß sie keineswegs ärgerlich war, und kniff sie noch einmal, bevor er seine Hand zurückzog.
Nach Tisch spielten sie Gin-Rummy, bis sie zu gähnen begann.
»Weißt du, was ich möchte?« sagte sie. »Ein Schläfchen machen. «
»Tu's doch«, sagte er.
Sie streifte die Schuhe ab und streckte sich auf dem Sitz aus. »Wart einen Augenblick«, sagte er. »Ich werd Oscar sagen, daß er dir das Bett machen soll.«
»Das brauch ich nicht«, sagte sie. »Dann mußt du ihm wieder ein Trinkgeld geben.«
»Ich geb ihm auf jeden Fall ein Trinkgeld«, sagte er ungeduldig. Sie nahm zwei Bufferin-Tabletten, während Oscar die Koje für sie zurechtmachte, und dann zog sie Kleid und Mieder aus, schlüpfte unter die Decken und schlief, bis zum letzten Abendessen gerufen wurde. Abe weckte sie so sanft, wie er nur irgend konnte. Nach dem Schlaf war sie ausgeruht und hungrig. Sie bestellte Brathuhn und Apfelkuchen und Kaffee zum Abendessen, aber in der Nacht war sie unruhig und drehte sich hin und her, so daß auch er nicht schlafen konnte.
»Was ist denn los?« fragte er.
»Ich sollte nichts Gebratenes essen. Jetzt hab ich Sodbrennen«, sagte sie. Er stand auf und gab ihr ein Alka-Seltzer. Gegen Morgen wurde es besser. Sie gingen zeitig in den Speisewagen und tranken Juice und schwarzen Kaffee. Dann kehrten sie in ihr Abteil zurück, und Dorothy nahm ihre Strickerei wieder auf, die an einem riesigen blauen Garnknäuel hing.
»Was machst du jetzt?« fragte er. »Einen Strampelanzug für Max.«
Er versuchte zu lesen, während sie strickte, aber er war nie ein großer Leser gewesen, und jetzt war er des Lesens müde. Nach einer Weile unternahm er einen Spaziergang durch den hin und her schwingenden Zug und machte schließlich im Vorraum zu den Herrenwaschräumen halt, wo Oscar Browning Handtücher stapelte und kleine Seifenstücke abzählte.
»Jetzt müssen wir doch bald nach Chicago kommen, nicht wahr?«
fragte er und nahm neben dem Schaffner Platz.
»Noch zwei Stunden ungefähr, Mr. Kind.«
»Dort hab ich eine Menge Kundschaften gehabt«, sagte er. »Marshai Field, Carson, Pirie and Scott. Goldblatt. Imponierende Stadt.«
»Das stimmt«, sagte der Schaffner. »Ich bin dort zu Hause.« »So«, sagte Abe. Dann dachte er eine Weile nach. »Haben Sie Kinder?«
»Vier.«
»Muß schwer sein, immer so herumzureisen.«
»Ja, es ist nicht leicht«, sagte der Schaffner. »Aber wenn ich nach Hause komm - Chicago ist eben Chicago.«
»Und warum suchen Sie sich nicht einen Job in Chicago?«
»Die Eisenbahn bezahlt mir mehr, als ich dort verdienen könnte.
Und ich komm lieber einmal in der Zeit zu meinen vier Kindern nach Haus und bring Geld für neue Schuhe mit, als daß ich sie tagtäglich seh und kein Geld für neue Schuhe hab. Stimmt's nicht?«
»Stimmt«, sagte Abe, und sie grinsten einander an. »Sie müssen eine Menge zu sehen kriegen bei diesem Job. So ein Zug, vollgestopft mit Männern und Weibern - da muß sich doch allerhand abspielen.«
»Ja, manche Leute beginnt's zu jucken, sobald sie auf Reisen sind.
Und in einem Zug ist das ärger als auf einem Schiff. Man kann ja nicht viel anderes anfangen.« Und eine Zeitlang erzählten sie einander Geschichten, Schlafwagengeschichten und Geschichten aus der Miederbranche. Dann gingen Oscar die Handtücher und die Seifen aus, und Abe kehrte in sein Abteil zurück.
Der Garnknäuel war bis zur Tür gerollt, nachdem er ihr vom Schoß gefallen war. »Dorothy?« fragte Abe. Er hob den Knäuel auf und trat näher. »Dorothy?« sagte er nochmals und schüttelte sie, aber er wußte es augenblicks und drückte mit aller Kraft den Knopf des Summers nieder, der den Schaffner herbeirief. Man hätte glauben können, sie schliefe, wären ihre Augen nicht offen gewesen, blicklos auf die kahle grüne Wand gegenüber gerichtet. Oscar kam durch die Tür, die Abe offengelassen hatte.
»Ja, Sir, Mr.
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