Der Rabbi
gesessen waren. Der Bahnhof lag unmittelbar am Rhein. Isaac hatte ein Gespräch mit einem holländischen Fährmann begonnen, der eben mit seiner kräftigen, breitschultrigen Frau Kohlensäcke auf sein Lastboot verlud.
Er hatte den Holländer gebeten, sie für Geld stromabwärts mitzunehmen, und hatte eine Abfuhr bekommen. Itta saß in der Nähe auf einem Baumstumpf, ihre Röcke schleiften im nassen Ufersand; als sie die Antwort des Holländers hörte, begann sie zu weinen. Das Weib des Schiffers sah die junge jüdische Frau an, ihren dicken Bauch, ihr bleiches Gesicht. Dann sagte sie ein paar scharfe Worte zu ihrem Mann; der schaute zwar ärgerlich drein, aber er wies Isaac und Itta an Bord, wortlos, nur mit einer Geste seines kohlschwarzen Daumens.
Diese Art des Reisens war neu und seltsam für sie, aber sie gefiel ihnen sehr. Das Boot hatte zwar Kohle geladen, aber die Wohnräume waren sehr sauber. Der Unmut des Schiffers verging, sobald er merkte, daß Isaac für die Fahrt nicht nur zu zahlen, sondern auch zu arbeiten bereit war. Die Tage waren sonnig, der Strom floß grün und klar dahin. Isaac sah, daß Ittas Wangen allmählich wieder Farbe bekamen.
Morgens stand er allein auf dem taufeuchten Deck bei den Kohlensäcken, den taless um die Schultern, Gebetsriemen um Stirne und Arm, und sang leise, während der stille Kahn vorbeizog an mächtigen Burgen, die ihre Türme in den hellen Himmel hoben, an Knusperhäusern, in denen Deutsche schliefen, an Dörfern und Klippen und weitem Weideland. Als er am vierten Morgen seine Gebete beendet hatte, gewahrte er aufblickend den Holländer, der an der Reling lehnte und ihn beobachtet hatte. Der Schiffer lächelte respektvoll und stopfte seine Pfeife. Von da an fühlte sich Isaac auf dem Kahn zu Hause.
Der Mittellauf des Rheins mit seinen Burgen blieb hinter ihnen zurück.
Auf der Höhe von Bingen arbeitete Isaac schon wie ein Matrose und führte jedes Kommando des Schiffers aus, als das Boot sausend durch die Stromschnellen fuhr. Dann wurde der Fluß zum trägen Strom, und zwei Tage lang trieben sie langsam dahin. Am neunten Tag wandte sich der Rhein nach Westen, in die Niederlande; von da an hieß er Waal.
Zwei Tage später trug er sie in den Hafen von Rotterdam. Der Schiffer und seine Frau gingen mit ihnen zu dem Kai, wo die Überseedampfer anlegten. Der holländische Zollbeamte sah sich den jungen Emigranten genau an, dessen Alter im Paß mit dreiundfünfzig Jahren angegeben war.
Dann aber, mit einer wegwerfenden Geste, gab er schnell seinen Stempel. Itta weinte, als das holländische Ehepaar sie verließ. »Sie waren wie Juden«, sagte Michaels sejde jedesmal am Ende dieser Geschichte.
Wenn nicht gerade ein Kunde ins Geschäft kam, erzählte Isaac seinem Enkel als nächstes die Geschichte von der Geburt seines Vaters auf hoher See, während eines wilden atlantischen Sturmes mit Wogen »so hoch wie das Chrysler Building«; in dieser Nacht torkelte der Arzt vor Trunkenheit wie das Schiff, so daß Michaels Großvater mit seinen eigenen bebenden Händen das Kind aus Ittas Leib ziehen mußte.
Es war eine Katastrophe, wenn ein Kunde eine dieser Geschichten unterbrach, aber wenn er ein Italiener oder ein Ire und das Ende schon nahe war, dann ließ Isaac ihn warten und beschloß seinen Bericht. Jenes Viertel von Brooklyn, Borough Park, hatte überwiegend jüdische Einwohnerschaft, aber es gab auch ausschließlich irische und ausschließlich italienische Straßenzüge. Isaacs Laden in einer jüdischen Gasse lag zwischen zwei solchen christlichen Einsprengseln. In der irischen Gasse gab es ein Warenhaus, das einem gewissen Brady gehörte, und drüben bei den Italienern gab es Alfanos Laden. Zumeist hielt sich auch jede der verschiedenen Bevölkerungsgruppen an ihren eigenen Kaufmann. Aber zuweilen kam es vor, daß irgendein Artikel in einem der drei Geschäfte ausgegangen war, so daß der Kunde bei den beiden anderen nachfragen mußte; dort wurde er dann höflich, aber kühl bedient, denn der Besitzer wußte, daß es sich nur um einen einmaligen Kauf in einer vorübergehenden Notlage handelte.
Michaels Großvater hatte den Laden in Borough Park nach dem Tod seiner Itta erworben, als der Knabe drei Jahre alt war. Zuvor hatte er ein ebenso winziges Geschäft in einem anderen Teil von Brooklyn geführt, in Williamsburg, wo er und seine Frau sich nach ihrer Ankunft in den Staaten niedergelassen hatten. Williamsburg war ein von Küchenschaben wimmelndes Armeleuteviertel,
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