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Der Rabbi

Der Rabbi

Titel: Der Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
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Schwierigkeiten machen würden. Sie hatte die Papiere meiner toten Schwester. Aber ich war jung und reiste mit dem Paß eines alten Mannes.
    Gefährlich wurde es erst an der Grenze zwischen Polen und Deutschland. Es war eine Zeit der zoress zwischen den beiden Ländern.
    Zwischen Polen und Deutschland ist immer etwas los, aber damals waren die zoress besonders arg. Als wir an die Grenze kamen, wurde der Zug angehalten, und alles mußte aussteigen. Man sagte uns, daß nur eine bestimmte Anzahl Menschen passieren durfte und daß die Quote gerade voll geworden war.«
    An dieser Stelle hörte das Schaukeln auf, ein Zeichen für Michael, daß er zur Steigerung der Spannung eine Frage stellen sollte. So murmelte er in seines Großvaters Bart und spürte dabei, wie die Haare seine Lippen und seine Nase kitzelten. Von Zeit zu Zeit wurde der Bart dort, wo das Gesicht des Knaben lag, feucht von seinem Atem, und Michael mußte den Kopf wenden und einen trockenen Fleck suchen. »Und was hast du da gemacht, sejde ?«
    »Wir waren nicht allein. Mit uns waren an die hundert Leute, denen es ebenso erging. Polen, Deutsche, Russen, Juden. Auch ein paar Rumänen und Böhmen. Manche verließen die Station und suchten einen Platz, wo sie schwarz über die Grenze gehen konnten. Es kamen auch Leute aus dem Städtchen zu uns und boten uns an, uns für Geld einen sicheren Weg zu zeigen. Aber sie gefielen mir nicht, sie sahen aus wie Verbrecher.
    Und außerdem hatte deine Großmutter, aleja ha Schalom , einen Bauch wie eine Wassermelone. Sie war schwanger mit deinem Vater. Ich hatte Angst vor einem langen Fußmarsch. So warteten wir den ganzen Tag lang beim Schlagbaum an der Grenze. Die Sonne schien, es war heiß wie in einem Backofen, und ich fürchtete, deiner Großmutter könnte übel werden. Wir hatten ein bißchen Brot und Käse mit, und das aßen wir, aber bald darauf wurden wir hungrig. Und wir waren sehr durstig. Es gab nichts zu trinken. Wir warteten den ganzen Tag. Wir blieben auch da, als die Sonne schon unterging, denn wir wußten nicht, wohin wir sonst hätten gehen sollen.«
     
    »Und wer hat euch gerettet, sejde ?«
    »Beim Schlagbaum warteten auch zwei schöne jiddische Mädchen.
    Schejne majdlach . Und hinter dem Schlagbaum standen zwei deutsche Soldaten mit roten Gesichtern. Die majdlach gingen zu den Soldaten und redeten leise mit ihnen und lachten. Und sie machten den Schlagbaum auf und ließen die Mädchen hinüber. Und wir alle, Juden und Polen und Deutsche und Russen und Böhmen und Rumänen, deine Großmutter mit ihrem dicken Bauch und ich, wir alle schoben und drängten uns durch den Schranken - wie die Herden, die du im Kino sehen kannst -, bis wir über der Grenze waren, und dann mischten wir uns unter die Leute, die in der Station warteten, bis die Soldaten uns nicht mehr finden konnten. Und bald darauf kam ein Zug, und wir stiegen ein und fuhren davon.«
    Michael bebte vor Spannung, denn das Beste stand noch bevor. »Und warum haben die Soldaten den Mädchen den Schlagbaum geöffnet, sejde ?«
    »Weil sie den Soldaten etwas versprochen haben.«
    Dem Knaben lief das Wasser im Mund zusammen. »Was denn? Was haben sie den Soldaten versprochen?«
    »Was Süßes und Warmes haben sie ihnen versprochen - etwas, worauf die Soldaten sehr gierig waren.«
    »Was war's denn, sejde ?«
    Bauch und Brust des Großvaters erbebten leise. Als er die Geschichte zum erstenmal erzählte, hatte Michael dieselbe Frage gestellt, und der Alte, verzweifelt nachdenkend über eine Antwort, die man einem so kleinen Jungen geben konnte, hatte genau das Richtige gefunden.
    »Zuckerzeug. So wie das da.«
    Der Großvater trug immer einen zerknitterten braunen Papier sack mit dem unvermeidlichen kandierten Ingwer in der Tasche. Die scharfe Wurzel war eingehüllt in Zucker. Anfangs schmeckte sie süß, aber wenn man den Zucker weggelutscht hatte, war sie so scharf, daß einem das Wasser in die Augen trat. Michael liebte das ebenso wie sein Großvater, aber wenn er zuviel davon aß, brannte sein tasch am nächsten Morgen so sehr, daß er weinend im Badezimmer saß, immer in Angst, seine Mutter könnte es hören und dem sejde verbieten, ihm je wieder Ingwer zu geben.
    Jetzt aber, beim Ingweressen im Laden des Großvaters, bat er um noch eine Geschichte. »Erzähl mir, wie es nach dem Zug weiterging, sejde .«
    Und Isaac erzählte, daß der Zug sie nur bis Mannheim gebracht hatte und daß sie dort wieder wartend in der heißen Frühlingssonne

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