Der Rabbi
aber es war so orthodox wie nur irgendein Getto in Europa; das war wahrscheinlich der Grund, warum Isaac diese Gegend liebte und sie nicht verlassen wollte.
Für Michaels Vater aber war der Gedanke unerträglich, den alternden Mann allein und ohne Betreuung zu lassen. So verkaufte Isaac auf Abe Rivkinds Drängen den Laden in Williamsburg und zog nach Borough Park zu seinem Sohn und dessen Familie. Er brachte seine Gebetbücher mit, vier Flaschen Whisky, ein Federbett, das Itta mit eigenen Händen gefertigt hatte, und das große Messingbett, ihre erste Anschaffung in Amerika, in dessen glänzendem Spiegel, wie er seine Enkelkinder zu überzeugen wußte, sie ihre Seelen sehen konnten, wenn sie ohne Sünde waren.
Isaac hätte sich zu dieser Zeit schon zur Ruhe setzen können, denn Abe Rivkind verdiente gut als Inhaber einer kleinen Fabrik, die Mieder und Hüftgürtel erzeugte. Aber er wollte seinen Whisky selbst bezahlen, und Sohn und Schwiegertochter verstummten vor seinem grimmigen Blick; so kaufte er den kleinen Laden um die Ecke von ihrer Wohnung in Borough Park. Für Dorothy Rivkind mußte der Tag, an dem der Schwiegervater in ihr Haus zog, ein Unglückstag gewesen sein. Sie war eine dickliche, wasserstoffblonde Frau mit sanften Augen. Theoretisch führte sie einen koscheren Haushalt, sie brachte weder Schweinefleisch noch schuppenloses Meeresgetier auf den Tisch, aber nie hielt sie ihr Gewissen nachts wach mit der Frage, ob sie nicht irrtümlich beim Abräumen nach dem Abendessen eine Fleischschüssel zum milchigen Geschirr gestellt haben könnte. Isaac dagegen war ein Mann, für den das Gesetz unantastbar war. Unter dem Pult in seinem Laden bewahrte er einen Stapel oft gelesener und mit Notizen versehener Kommentare auf, und er befolgte die religiösen Vorschriften so selbstverständlich wie er atmete, schlief, sah und hörte. Die Übertretungen seiner Schwiegertochter erfüllten ihn zuerst mit Entsetzen und dann mit Zorn.
Kein Familienmitglied wurde verschont. Die Nachbarn gewöhnten sich allmählich an den Klang seiner Stimme, die in ehrlichem und entrüstetem Jiddisch zu donnern pflegte. Am Abend von Isaacs Einzug gab es Rinderbraten; Michael und seine Schwester Ruthie kamen mit Butterbroten zu Tisch, die sie sich kurz zuvor gestrichen hatten. » Gojim !«
brüllte der Großvater. »Mit Butter kommt ihr an einen fleischigen Tisch?« Er wandte sich zur Mutter, die bleich geworden war. »Was für Kinder ziehst du da auf?«
»Ruth, nimm Michaels Butterbrot und wirf es weg«, sagte Dorothy ruhig.
Aber Michael war ein kleiner Junge, und das Butterbrot schmeckte ihm.
Er wehrte sich, als seine Schwester es ihm wegnehmen wollte, und dabei fiel ein Stückchen Butter auf seinen Teller. Es war ein Fleischteller. Der Großvater begann neuerlich zu schreien, und Ruth eilte mit ihrem Bruder auf sein Zimmer. Dort hielten sie einander angstvoll umschlungen und lauschten fasziniert der großartigen Wut des Alten.
Nach dem Muster dieses Vorfalls spielte sich das weitere Leben des sejde im Hause seines Sohnes ab. Er verbrachte soviel Zeit wie möglich in seinem Laden, in dessen Hinterzimmer er auch, Dorothys Proteste nicht achtend, auf einer kleinen elektrischen Kochplatte sein Mittagmahl zubereitete. Wenn er abends heimkam, ertappte sie der Falkenblick unweigerlich auf dem kleinsten Verstoß gegen die rituellen Vorschriften, und der Adlerschrei, uralt und wild, zerstörte ihren Familienfrieden.
Er wußte, daß er sie unglücklich machte, und dieses Wissen machte ihn traurig. Michael bemerkte das, denn er war seines Großvaters einziger Freund. Die ersten paar Wochen nach seinem Einzug hatte er Angst vor dem bärtigen alten Mann. Dann kam Isaac eines Nachts, als die andern schliefen und er keine Ruhe fand, in das Zimmer seines Enkels, um zu sehen, ob der Junge auch zugedeckt wäre. Michael lag wach. Als Isaac dies sah, setzte er sich an den Bettrand und strich mit seiner vom jahrelangen Schleppen all der Kisten und Dosen und Gemüsekörbe hart gewordenen Hand über das Haar des Knaben.
»Hast du heute abend mit Gott geredet?« flüsterte er mit rauher Stimme.
Michael hatte nicht gebetet, aber er wußte genau, was dem Großvater Freude machte; so nickte er schamlos, und als Isaac seine Finger küßte, spürte er das Lächeln auf den Lippen des alten Mannes. Mit Daumen und Zeigefinger kniff Isaac den Knaben in die Wange.
» Dos is gut «, sagte er. »Red oft mit Ihm.«
Bevor er sich in sein Zimmer zurückschlich,
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