Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Rabbi

Der Rabbi

Titel: Der Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
Vom Netzwerk:
die verwüsteten Straßen zogen; die Häuser zu beiden Seiten brannten noch immer.
    Von der Schmiede war nichts übriggeblieben als die Essen, und die waren nun außen so schwarz wie innen. Das Haus war zu drei Viertel zerstört, ein ausgebranntes Gerippe ohne Dach. In der Nähe wartete Ittas Bruder, Solomon Melnikov. Er stieß einen Freudenschrei aus, als er sie lebend und heil sah. Dann legte er wie ein Kind den Kopf an Isaacs Schulter und begann zu weinen.
    Während der Beerdigung und der sieben Trauertage blieben Isaac und Itta bei den Melnikovs. Ganz Kischinew saß schiwe . Siebenundvierzig Juden waren bei dem Pogrom getötet, an die sechshundert verletzt worden. Zweitausend Familien waren völlig zugrunde gerichtet. Der fanatisierte Mob war raubend und vergewaltigend durch die Stadt gezogen, und am Ende hatten sie den Männern die Kehlen durchschnitten und die Schädel eingeschlagen. Siebenhundert Häuser waren zerstört, sechshundert Läden geplündert worden.
    Am letzten Abend der Trauerwoche ging Isaac allein zu der zerstörten Schmiede. Die Straßen waren dunkel, die Häuserreihen unterbrochen von den schaurigen Zahnlücken der Brandruinen. Der lockere Ziegel auf dem Grund der Esse ließ sich fast zu leicht entfernen, und einen Augenblick lang erfüllte Isaac die dumpfe Gewißheit, daß Geld und Pässe verschwunden wären. Aber alles lag noch an seinem Platz. Isaac steckte den Schatz zu sich und setzte aus irgendeinem Grund den Ziegel wieder so ein, daß er den leeren Hohlraum sauber verschloß.
     
    Den Paß seiner Mutter gab er den Melnikovs; er sollte nie erfahren, ob irgend jemand ihn späterhin benützt hatte, um Kischinew zu verlassen.
    Sie verabschiedeten sich nur von Ittas Familie und von Mendels Vettern, denen es auch gelungen war, dem Pogrom zu entgehen.
    Die Familie Melnikov fiel 1915 der Grippeepidemie zum Opfer, die Bessarabien heimsuchte. Aber das, pflegte Michaels sejde zu sagen, war eine andere Geschichte, deren Einzelheiten nie ganz bekanntgeworden waren.
    Der Großvater erzählte diese Ereignisse wieder und wieder, bis Michaels Mutter, die an den schrecklichsten Stellen der Geschichte ihr Grausen nicht verbarg und deren Geduld durch die Hausgenossenschaft mit dem alten rechthaberischen Mann schon bis zum äußersten beansprucht war, scharf unterbrach. »Wir wissen das alles. Wir haben es schon hundertmal gehört. Oj, den Kindern muß er solche Sachen erzählen!« So kam es, daß Michael die Geschichten seines sejde zumeist in Rivkinds Gemischtwarenhandlung zu hören bekam, einem Ort, der erfüllt war von den herrlichsten Gerüchen nach Knoblauch und Landkäse und Räucherfisch und süßsaurem Essiggemüse. Auch der Großvater selbst roch gut, und Michael atmete diesen Geruch, wenn er auf den Knien des alten Mannes saß. Der Bart verströmte den Wohlgeruch von Kastilischer Seife und dem starken Prince-Albert-Pfeifentabak, den Isaac an sechs Tagen der Woche rauchte, und der Atem roch immer ein wenig nach kandiertem Ingwer und Kornwhisky, zwei Genüssen, denen der Alte reichlich zusprach. Er war der seltene Fall des Juden, der trinkt. Einsam und wohlhabend, hatte er sich nach dem Tod seiner Frau dem Luxus des Schnapstrinkens ergeben. Alle paar Stunden gönnte er sich einen Schluck aus der Flasche kanadischen Whiskys, die ihm ein wohlmeinender, der Prohibition feindlicher Drogist lieferte und deren Versteck in einem Bohnenfaß er für absolut geheim hielt.
    Michael brauchte in seiner Kindheit keine Anregung von Helden aus der Literatur. Er hatte einen lebendigen Helden, eine Mischung aus Don Quichotte, Tom Swift und Robinson Crusoe, der sich in fremder Umwelt ein neues Leben aufbaute. »Erzähl mir die majsse von der Grenze, sejde «, bat er, verbarg sein Gesicht in dem weißen Bart und schloß die Augen.
    »Wer hat schon Zeit für solche Dummheiten«, brummte Isaac, aber sie wußten beide, daß sie mehr als genug Zeit hatten. Der alte Schaukelstuhl hinter dem Verkaufspult schwang vor und zurück, leise schnarrend wie eine Grille, und Michael versteckte sein Gesicht noch tiefer im Bart seines Großvaters.
    »Als ich Kischinew verließ mit meiner Itta, aleja ha Schalom , sie ruhe in Frieden, fuhren wir mit dem Zug nach Norden, rund um die Berge. Es war nicht schwer, nach Polen hineinzukommen, das gehörte damals zu Rußland. Sie haben die Pässe nicht einmal angeschaut.
    Ich machte mir Sorgen über meinen Paß. Er gehörte meinem Vater, er ruhe in Frieden. Ich wußte, daß sie Itta keine

Weitere Kostenlose Bücher