Der Rabbi
geschnitten. Es tat nicht sehr weh, aber er konnte kein Blut sehen, nicht einmal das von anderen Leuten. Er spürte, wie er erbleichte.
»Ist gleich in Ordnung«, sagte Bobby Lee. Er hielt Michaels Hand zuerst unter den Wasserhahn, dann in eine Schüssel voll Peroxyd, bis sich über dem Schnitt ein Schaum von winzigen Blasen bildete.
Dann läutete das Küchentelephon, und gleich darauf erschien Mr.
Bousquets Kopf in der Tür.
»Was ist los?« fragte der Chef mit einem Blick auf das Blutbad.
»Nur ein Schnitt. Rein wie ein Kinderpopo. Fertig zum Verbinden«, sagte Bobby Lee.
»Ferngespräch für Sie, Mr. Kind«, sagte Mr. Bousquet höflich.
Damals war ein Ferngespräch für Michael unter allen Umständen eine Sache von größter Wichtigkeit. Er sprang auf und ging schnell zum Telephon, eine Spur von hellen Blutstropfen hinter sich lassend und gefolgt von Bobby Lee, der irgend etwas Unverständliches sagte; vermutlich fluchte er auf koreanisch. »Hallo?«
»Hallo, Michael?« »Wer spricht denn?« »Michael, ich bin's, Papa.«
Bobby Lee schob eine Schüssel unter Michaels Hand und ging weg.
»Was ist los?« sagte Michael ins Telephon.
»Wie geht's dir, Michael?« »Gut. Ist etwas geschehen?«
»Wir möchten, daß du nach Hause kommst.« »Warum?«
»Michael, ich glaube, du wirst hier gebraucht werden.«
Er hielt den Hörer umklammert und starrte in die Sprechmuschel.
»Hör zu, Dad, jetzt sag schon endlich, was los ist.«
»Es ist - wegen Großvater. Er hat sich die Hüfte gebrochen. Er ist gefallen, im Heim.«
»In welchem Spital liegt er?«
»Er ist im Altersheim, auf der Krankenstation. Sie haben dort alles, sogar einen Operationssaal. Ich habe einen großen Spezialisten zugezogen. Er hat den Bruch genagelt - ein Nagel, der die zwei Knochen zusammenhält.«
Bobby Lee kam mit Jod und Verbandzeug zurück.
»Nun, das ist keine gute Nachricht - aber es schaut doch nicht allzu ernst aus.« Michael wußte, daß es ernst war - sonst hätte der Vater nicht angerufen -, aber eine alles überwältigende Selbstsucht hatte von ihm Besitz ergriffen. »Ich kann heute nicht kommen, aber ich kann morgen den ersten Bus nehmen.« »Heute«, sagte sein Vater entschieden.
»Es gibt keinen Bus«, sagte Michael. Später erst spürte er, mit der Sorge um den Großvater, auch Scham und ein Gefühl von Schuld.
»Nimm einen Mietwagen, ein Taxi, irgendwas. Er verlangt nach dir.«
»Wie schlecht steht es wirklich um ihn?«
Bobby Lee hielt die Schüssel unter seine Hand und behandelte den Schnitt mit Jod.
»Er hat eine Lungenentzündung vom langen Liegen. Und er ist siebenundachtzig. So alte Leute kriegen leicht Wasser in die Lunge.«
Fast im selben Augenblick fühlte Michael das scharfe Brennen des Jods auf der offenen Wunde und das schärfere der Gewissensbisse, und er atmete tief und so schwer, daß es sein Vater in New York hörte.
Ein seltsamer Ton aus dem Hörer gab ihm Antwort, und im selben Augenblick wußte Michael, daß er diesen Ton nie zuvor gehört hatte: dieses rauhe, grunzende Geräusch war das Weinen seines Vaters.
10
Es dämmerte schon über Brooklyn, als Michael aus dem Taxi sprang und die gelben Ziegelstufen zum Waisen-und Altersheim der Sons of David hinauflief. Eine Schwester führte ihn durch die mit glänzendem braunem Linoleum belegten Gänge zur Krankenstation. In einem kleinen Einzelzimmer saß sein Vater neben dem Bett des Alten. Die Jalousien waren ganz her-untergezogen, und nur ein kleines Nachtlicht leuchtete in der Finsternis. Ober dem Bett war ein Sauerstoffzelt aufgebaut. Durch seine Plastikfenster sah Michael das verschattete Gesicht und den weißen Bart seines sejde.
Der Vater sah zu ihm auf. »Nu, Michael?« Abe war unrasiert und hatte gerötete Augen, aber er schien völlig gefaßt.
»Es tut mir leid, Dad.«
»Leid? Es tut uns allen leid.« Er seufzte tief. »Das Leben ist ein cholem, ein Traum. Es ist vorbei, bevor du's noch richtig bemerkst.
»Wie geht's ihm?«
»Er liegt im Sterben.« Abe sprach mit normaler Lautstärke, und die Worte dröhnten wie ein unerbittlicher Urteilsspruch. Erschrocken sah Michael zum Bett hinüber.
»Er wird dich hören«, flüsterte er.
»Er hört nichts. Er hört nichts und weiß nichts mehr.« Sein Vater sagte es vorwurfsvoll und starrte ihn mit seinen geröteten Augen an.
Michael trat an das Bett und preßte sein Gesicht an das Plastikfenster. Die Wangen des sejde waren eingefallen und die Haare in seinen Nasenlöchern
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