Der Rabbi
daran.
Es hilft doch niemandem, solche Dinge wieder auszugraben.«
»Nein. Ich muß eine Antwort haben. Hast du mir vergeben?«
»Ich hab dir vergeben. Und jetzt - gib Ruh.«
»Hör zu. Hör mir zu.« Erleichterung klang aus der Stimme seines Vaters, Erregung und aufsteigende Hoffnung. »Das zeigt doch, wie nah wir beide einander wirklich sind, daß wir imstand waren, auch so etwas zu überstehen. Schau - wir haben ein Geschäft in der Familie, von dem wir immer gut gelebt haben. Ein wirklich gutes Geschäft.«
An der Angel hing ein Fisch von Tellergröße. Er schlug um sich, als Michael ihn ins Boot holte; aus der umgestürzten Bierflasche ergoß sich schaumige Flüssigkeit über Michaels Leinenschuhe.
»Früher einmal hab ich geglaubt, ich könnte es selbst schaffen«, sagte Abe. »Aber ich bin noch aus der alten Schule, ich kenn mich im großen Geschäft nicht aus. Ich muß das zugeben. Aber du - du könntest für ein Jahr nach Harvard gehen, Betriebswirtschaft studieren, dann kommst du zurück mit all den neuen Methoden, und Kind Foundations könnte führend in der Branche werden. Davon hab ich immer geträumt.«
Michael setzte den Fuß im bierdurchnäßten Leinenschuh auf die flache, braungesprenkelte Flunder, um sie am Hin-und Herschlagen zu hindern, und spürte ihr aufgeregtes Zucken durch die dünne Gummisohle. Der Angelhaken war tief eingedrungen. Der Fisch lag mit seiner weißen, blinden Seite nach unten, die zwei schwarzen Glotzaugen sahen Michael an, noch glänzend und nicht erstarrt.
»Es tut mir leid, Pop«, sagte Michael schnell, »bitte, hör auf.«
Vorsichtig versuchte er, den Fisch von der Angel zu lösen, hoffte, es möge nicht weh tun, und spürte doch, wie der Widerhaken am Fleisch riß, als er ihn herauszog.»Ich will Rabbiner werden«, sagte er.
19
Der Emanuel-Tempel in Miami Beach war ein großes Ziegelbauwerk mit weißen Säulen und breiten weißen Marmorstufen davor. Im Laufe der Jahre waren die Kristalle im Marmor von den Füßen vieler Gläubiger so blank poliert worden, daß die Stufen nun im starken Licht der Sonne von Florida glänzten. Drinnen im Tempelgebäude gab es eine beinahe geräuschlose Klimaanlage, der Gottesdienst wurde in einem Raum mit fast endlos erscheinenden Reihen roter Plüschsessel abgehalten, es gab einen schalldichten Tanzsaal, eine komplette Küche, eine nicht komplette Judaica-Bibliothek und auch für den Hilfsrabbiner ein kleines, aber teppichbelegtes Büro.
Michael saß unglücklich hinter dem polierten Schreibtisch, der nur um weniges kleiner war als jener in dem größeren Büro am anderen Ende des Flurs, wo Rabbi Joshua L. Flagerman residierte. Unmutig blickte er auf, als das Telephon läutete. »Hallo?«
»Kann ich den Rabbi sprechen?«
»Rabbi Flagerman?« Er zögerte einen Augenblick. »Er ist nicht hier«, sagte er schließlich und gab dem Frager die Privatnummer des Rabbi. Der Mann dankte und legte ab.
Seit drei Wochen war Michael nun auf diesem Posten - gerade lange genug, um sich davon zu überzeugen, daß es ein Fehler gewesen war, Rabbiner zu werden. Die fünf Jahre Studium am Jewish Institute of Religion hatten ihn in die Irre geführt. An der Rabbinatsschule war er ein blendender Student gewesen. »Ein Edelstein unter dem Schotter der Reformierten«, hatte Max Gross einmal bitter bemerkt.
Gross machte kein Hehl daraus, daß er Michaels Entschluß, Rabbiner bei den Reformierten zu werden, als Verrat empfand. Ihre geistige Beziehung blieb zwar bestehen, wurde aber nie so innig, wie sie hätte werden können, hätte Michael sich der Orthodoxie zugewandt. Dem Jüngeren fiel es schwer, seine Wahl zu erklären. Er wußte nur, daß die Welt sich schnell veränderte, und Reform schien ihm der beste Weg, diese Veränderungen zu bewältigen.
In den Ferien arbeitete er als Jugendfürsorger in Manhattan und versuchte Kindern, die im Begriff waren, in unsichtbaren Meeren zu ertrinken, die Strohhalme des Glaubens hinzuhalten. Von den Vätern waren viele bei der Armee, und die Mütter arbeiteten in Tag-und Nachtschicht in den Kriegsbetrieben oder brachten zahlreiche fremde und schnell wechselnde »Onkel« in Uniform nach Hause.
Bald erkannte Michael den Jugendlichen, der unter Rauschgift stand, schon an seinem beschwingten Gang und den erweiterten Pupillen und den verschmachtenden armen Teufel, dem seine Droge ausgegangen war, an den verkrampften Bewegungen und dem zwanghaften Kaugummikauen. Er sah, wie die Kindheit vom Schmutz des Lebens
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