Der Rabbi
sich, daß ich es wage, ihnen etwas zu sagen, irgend jemandem irgend etwas zu sagen?
Die Pause wurde zum Schweigen, und noch immer konnte er nicht sprechen. Es war schlimmer als an dem Tag, da er bar-mizwe wurde.
Er erstarrte. Die Zunge klebte ihm am Gaumen. Hinten im Betsaal kicherte ein Mädchen, ein winziger Laut, der allgemeines Füßescharren bei den Wartenden auslöste.
Mit größter Willensanstrengung zwang er sich zu sprechen. Er hetzte die Predigt durch, versprach sich einige Male, machte nachher verzweifelt Konversation und nahm schließlich ein Taxi zum Flughafen. Gleichgültig vor Verzweiflung, sah er fast während des ganzen Rückflugs nach New York zum Fenster hinaus und brummte nur etwas vor sich hin, wenn er Kaffee oder Likör ablehnte, die ihm die rothaarige Stewardeß anbot. Nachts fand er, erschöpft von der Reise, Zuflucht im Schlaf, aber am folgenden Morgen lag er wach im Bett und fragte sich, wieso er auf ein Amt verfallen war, für das er nicht das geringste Talent besaß. Eine Woche lang überlegte er, welche Möglichkeiten außer dem Rabbinat ihm blieben. Der Krieg mit Deutschland war zu Ende, und mit Japan konnte es nicht mehr lange dauern; es wäre pure Resignation gewesen, jetzt noch zur Armee zu gehen. Er konnte unterrichten; aber die Aussicht darauf machte ihn melancholisch. Blieb nur Kind Foundations. Während er noch seinen Mut für ein Gespräch mit Abe sammelte, kam ein Telegramm vom Anstellungskomitee der Gemeinde in Florida. Sie seien noch nicht eindeutig entschlossen; ob er bereit wäre, sie auf ihre Kosten zum kommenden Wochenende nochmals aufzusuchen und zu predigen?
Von Übelkeit und Ekel vor sich selbst gequält, fuhr er ein zweites Mal nach Miami. Diesmal haspelte er seine Predigt ohne Verzögerung herunter, obgleich seine Knie zitterten und er ziemlich sicher war, daß auch seine Stimme schwankte.
Zwei Tage später kam die Berufung.
Seine Pflichten waren einfach. Er hielt den Kindergottesdienst. Er assistierte dem Rabbiner am Sabbat. Er korrigierte die Fahnen des Tempel-Bulletins. Auf Rabbi Flagermans Wunsch arbeitete er an einem Katalog rabbinischer Literatur. Tagsüber, wenn sein Chef und dessen Sekretär anwesend waren, nahm Michael das Telephon nicht ab, das gleichzeitig an allen drei Apparaten läutete. Abends aber, wenn die beiden nicht hier waren und Michael noch in seinem Büro saß, übernahm er die Anrufe. Sooft jemand den Rabbiner zu sprechen wünschte, gab Michael Rabbi Flagermans Privatnummer.
Er machte einige Seelsorgegänge, besuchte erkrankte Gemeindemitglieder. Da er sich in Miami nicht auskannte, fuhren ihn junge Leute aus der Jugendgruppe des Tempels. Eines Nachmittags war sein Chauffeur Toby Goodman, ein blondes, sechzehnjähriges Mädchen.
Ihr Vater war ein wohlhabender Fleischkonservenfabrikant mit eigenen Herden in den Viehzuchtgebieten rund um St. Petersburg. Sie war sehr braungebrannt, trug weiße Shorts mit einer rückenfreien, ärmellosen Bluse und fuhr einen langgestreckten blauen Wagen mit offenem Dach.
Sie sah Michael aus großen Augen an und stellte Fragen über die Bibel, die er ernsthaft beantwortete, obgleich er wußte, daß sie sich über ihn lustig machte. Während er seine Besuche absolvierte, wartete sie geduldig im Wagen, parkte, wenn irgend möglich, im Schatten, aß halb zerschmolzene Schokolade und las ein Groschenheft, dessen Umschlag sexy aussah. Als er fertig war, fuhren sie schweigend zum Tempel zurück. Er betrachtete sie, während sie den Wagen langsam durch die von Menschen wimmelnden Straßen lenkte.
Überall gab es Uniformen. Miami war voll von Veteranen aus Übersee, die in den berühmten Strandhotels stationiert waren, der Ruhe pflegten und auf ihre Entlassung warteten. Sie füllten die Straßen, einzeln, in Gruppen oder in lockeren Zweierreihen, unterwegs zu einem Kurs oder ins Kino.
»Aus dem Weg, Bande«, murrte das Mädchen. Sie wechselte den Gang, stieg aufs Gas und zwang drei Air-Force-Männer, eilig zur Seite zu springen.
»Vorsicht«, sagte Michael sanft verweisend. »Die haben nicht den Krieg heil überstanden, damit sie jetzt von einem Rabbiner auf Gemeindebesuchen über den Haufen gefahren werden.« »Die tun doch nichts anderes, als in der Sonne liegen und pfeifen und blöde Bemerkungen darüber machen, daß sie einen eben im Kino gesehen haben.« Das Mädchen lachte. »Ich habe einen Freund bei der Navy, wissen Sie. Im vorigen Monat war er zu Hause. Der hat nie was anderes getragen als Zivil.
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