Der Rache Suesser Klang
Sie würde aufgeben und verschwinden, wie alle anderen auch. Cheryl hatte allerdings länger bei ihm ausgehalten als die meisten anderen. Das musste er ihr lassen.
Er schlug nach ihrer Hand und versuchte, sich auf die Seite zu rollen, aber sie packte ihn und zog ihn am T-Shirt hoch. Ihre Hand verschloss seinen Mund, als er endlich die Augen aufriss. Und in ihr Gesicht blickte, das im Mondlicht geisterhaft weiß aussah. Ihre dunklen Augen waren riesig und ängstlich. Nein, nicht einfach ängstlich. Cheryl war in Panik, und augenblicklich packte auch ihn die Furcht. Er hörte auf, sich zu wehren.
»Kein Wort«, formulierte sie lautlos mit den Lippen. Er nickte. Sie nahm die Hand von seinem Mund, zog ihn vom Bett und drückte ihm den Signalprozessor in die Hand. Normalerweise mochte er das Hörgerät für vollständig Taube nicht anlegen, wehrte sich dagegen, solange er konnte, aber nicht jetzt. Nun schob er ihn ohne Protest hinters Ohr.
Und fuhr zusammen, als das Dröhnen einsetzte. Als der Prozessor »seine Ohren einschaltete«, wie Cheryl sagen würde. Mit einem Schlag war die ruhige, stille Welt seiner Taubheit zu einer lauten, schmerzhaften Kakophonie geworden. Er konzentrierte sich. Um zu hören, was in diesem Getöse für ihn bedeutend war. Aber sie sagte nichts, sondern zog ihn nur durch das Zimmer zum Schrank.
Sie schob ihn hinein und drückte ihn zu Boden. Hockte sich hin, um ihm in die Augen zu sehen.
»Da unten ist jemand.« Sie flüsterte und machte gleichzeitig die Zeichen, und er sah, dass ihre Hand zitterte. Ihr ganzer Körper zitterte. »Paul sieht nach. Komm nicht raus, bevor ich dich hole.« Sie packte sein Kinn. »Hast du verstanden? Bleib hier. Und keinen Mucks.«
Er nickte, und sie richtete sich hastig auf und riss den Stapel Schwimmwesten, den sein Vater hier verstaut hatte, aus dem Regalfach. Muffiger Geruch hüllte ihn ein, als sie ihn damit bedeckte. Und dann schloss sich die Tür, und er war allein in der Dunkelheit.
Er versteckte sich. Wie ein Feigling.
Wut keimte in ihm auf und mischte sich mit der Angst. Er war kein Feigling. Er würde bald dreizehn sein, um Himmels willen. Und sie hatte ihn wie ein Kleinkind in den Schrank gesteckt. Hatte ihn unter einem Haufen Schwimmwesten vergraben, während
Paul
nachsah. Behutsam schob er die Westen zur Seite, bis er etwas sehen konnte, und starrte auf die Schranktür. Was sollte er tun? Ganz gewiss nicht hier ausharren, während irgendein Kerl ins Haus einbrach. Ganz gewiss nicht zulassen, dass
Paul
nachher für seinen ach so mutigen Einsatz gelobt wurde.
Ein Lichtschein drang durch den Türspalt, und sein Mut löste sich in nichts auf. Da war jemand ins Zimmer gekommen. Er rutschte zurück in die Schrankecke und spürte sein Herz hämmern. Seine Nackenhaare richteten sich auf, und er schauderte unwillkürlich.
Nein. Ich muss etwas tun!
Durch den tosenden Lärm drang plötzlich ein Schrei. Cheryl!
Ich muss ihr helfen!
Aber sein Körper war erstarrt. Erstarrt zu einem nutzlosen Gewicht unter einem Haufen Schwimmwesten. Er konzentrierte sich, lauschte. Sperrte das Dröhnen aus, wie Cheryl es ihm beigebracht hatte. Und lauschte.
Nichts. Nichts war zu hören. Sie waren fort. Er sollte aufstehen. Sollte er.
Dann ein Krachen, so laut, dass es ihm wehtat. Sein Kopf fuhr zurück, knallte gegen die Schrankwand, und ein heftiger Schmerz durchfuhr ihn.
Eine Waffe! Sie hatten eine Waffe. Jemand hatte geschossen. Cheryl! Sie hatten sie erschossen.
Und sie würden auch ihn erschießen. Oder Schlimmeres machen.
Tu was. Tu endlich was!
Was?
Er wusste es nicht. Er wusste nicht, was er tun sollte.
Dad!
Was würde sein Vater tun?
Er spürte einen scharfen Schmerz in der Brust. Er war zu alt, um nach seinen Eltern zu weinen, aber er wünschte sich so sehr, dass sie hier wären. Wünschte, sie wären nicht ausgerechnet heute nach Annapolis gefahren. Sie hatten Hochzeitstag. Wollten tanzen gehen. Sie würden nach Hause kommen und seine Leiche finden. Mom würde weinen.
Er blinzelte und bemerkte, dass sein Gesicht nass war. Er versteckte sich im Schrank und heulte, während sie Cheryl umbrachten. Und er konnte sich nicht regen!
Er fuhr zusammen, als der zweite Schuss ertönte, gedämpfter diesmal. Und Schreie.
Sie schrie. Dann lebte sie noch. Schreien. Der Lärm drang ihm wie Messer ins Hirn. Er konnte es hören, spüren. Millionen Messer, die zustachen. Mit hämmerndem Herzen und bebenden Fingern riss er den Prozessor vom Ohr.
Und es war still.
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