Der Raecher
Oberst und tippte mit dem Zeigefinger auf den rechten Oberschenkelknochen. Er war genau in der Mitte gebrochen.
»Daraus können wir ableiten, was passiert ist, mein Freund. Er war in Panik, rannte. Nur mit Taschenlampe, orientierungslos ohne Kompass. Er hat sich anderthalb Kilometer vom liegen gebliebenen Wagen entfernt. Dann bleibt er mit dem Fuß an
einer Wurzel, einem Baumstumpf oder an einer Ranke hängen. Er stürzt zu Boden. Zack. Das Bein ist gebrochen.
Jetzt kann er nicht mehr rennen, nicht mehr gehen, nicht mal mehr kriechen und ohne Gewehr nicht einmal Alarm schlagen. Er kann nur schreien, aber was passiert dann? Wussten Sie, dass es in unserem Dschungel Jaguare gibt?
Doch, doch. Nicht viele, aber wenn der Besitzer von siebzig Kilo Frischfleisch sich die Lunge aus dem Hals schreit, besteht die Möglichkeit, dass ein Jaguar ihn findet. Genau das ist hier passiert. Die Gliedmaßen waren über eine kleine Lichtung verstreut.
Das ist eine Speisekammer da draußen. Der Waschbär frisst frisches Fleisch. Auch der Puma und der Nasenbär. Und wenn es hell wird, kommen die Waldgeier aus dem Blätterdach. Haben Sie schon mal gesehen, was die mit einer Leiche anstellen? Nein? Kein schöner Anblick, aber sie leisten gründliche Arbeit. Und ganz am Schluss kommen die Feuerameisen.
Mit Feuerameisen kenne ich mich aus. Die gründlichste Putzkolonne der Natur. Fünfzig Meter vom Toten entfernt fanden wir ein Nest. Sie schicken Späher aus, müssen Sie wissen. Sie können nichts sehen, aber ihr Geruchssinn ist phänomenal, und nach zwanzig Stunden hätte es natürlich zum Himmel gestunken. Soll ich fortfahren?«
»Das genügt«, antwortete McBride. Trotz der frühen Stunde stand ihm nun der Sinn nach einem zweiten Whisky.
Wieder in seinem Büro, breitete der Geheimpolizist mehrere kleinere Gegenstände aus. Eine Uhr, auf deren Rückseite MW eingraviert war. Einen Siegelring, ohne Inschrift.
»Keine Brieftasche«, sagte der Oberst. »Hat sich wahrscheinlich ein Raubtier geholt, weil sie aus Leder war. Aber die Stiefel waren noch intakt, und in einem war das hier versteckt.«
Es war ein US-Pass, ausgestellt auf den Namen Medvers Watson. Als Beruf war Wissenschaftler angegeben. McBride sah sich das Foto an. Dasselbe Gesicht hatte ihm schon vom Visumantrag
entgegengeblickt. Brille, zotteliger Spitzbart, etwas verlorener Ausdruck.
Der CIA-Mann vermutete, und durchaus zu Recht, dass kein Mensch Medvers Watson jemals wiedersehen würde.
»Könnte ich meinen Vorgesetzten in Washington kontaktieren?«
»Bitte«, antwortete Oberst Moreno, »nur zu. Ich lasse Sie allein.«
McBride nahm sein Notebook aus dem Aktenkoffer, stellte die Verbindung zu Paul Devereaux her und tippte eine Ziffernfolge ein, die das Gespräch vor neugierigen Ohren schützen sollte. Er stöpselte das Mobiltelefon in das Notebook und wartete, bis Devereaux sich meldete.
In knappen Worten berichtete er seinem Vorgesetzten, was Oberst Moreno ihm mitgeteilt und was er mit eigenen Augen gesehen hatte. Eine Weile herrschte Stille.
»Kommen Sie zurück«, sagte Devereaux.
»Mit Freuden«, entgegnete McBride.
»Moreno kann den ganzen Kram behalten, auch das Gewehr. Aber ich will den Pass. Ach ja, und noch etwas.«
McBride lauschte.
»Sie wollen... was?«
»Tun Sie es einfach, Kevin. Und guten Flug.«
McBride teilte dem Oberst mit, was ihm befohlen worden war. Der dicke Geheimpolizist zuckte mit den Schultern.
»Ein kurzer Besuch. Bleiben Sie doch noch. Wie wär’s mit Hummer zum Lunch, draußen auf meinem Boot? Dazu eine Flasche kühlen Soave? Ach ja, der Pass, natürlich. Und der Rest...«
Er zuckte abermals mit den Schultern.
»Wie Sie wollen. Nehmen Sie ruhig beide.«
»Einer genügt, hat er gesagt.«
26
Der Trick
A m 29. August traf McBride wieder in Washington ein. Am selben Tag ging Henry Nash mit einem Pass, den der Minister Ihrer Majestät für auswärtige und Commonwealth-Angelegenheiten ausgestellt hatte, um seinen vollständigen Titel zu nennen, ins Konsulat der Republik San Martin in Paramaribo und beantragte ein Visum.
Es gab keine Probleme. Der Konsul in dem Ein-Mann-Büro wusste von der Aufregung um einen flüchtigen Kriminellen, der vor einigen Tagen versucht hatte, in sein Land einzureisen, aber inzwischen war Entwarnung gegeben worden. Der Mann war tot. Er stellte das Einreisevisum aus.
Das war das Leidige am August. Nichts konnte man rasch erledigen lassen, nicht einmal in Washington, nicht einmal, wenn man Paul
Weitere Kostenlose Bücher