Der Raecher
holte den Gefangenen mit einer Unterschrift heraus, und gemeinsam begaben sie sich zum Frühstück in die kleinste und exklusivste Kantine der gesamten Ersten Division. Unbefugte hatten keinen Zutritt, und zu der Zeit gab es nur vierzehn Mitglieder. Dexter war das fünfzehnte, doch schon eine Woche später, als wieder zwei fielen, schrumpfte die Zahl auf dreizehn.
An der Tür zu der »Hütte«, wie sie ihren kleinen Klub nannten, hing ein seltsames Emblem. Es zeigte ein aufrecht sitzendes Nagetier mit gefletschten Zähnen, phallischer Zunge, eine Pistole in der einen und eine Schnapsflasche in der anderen Hand. Dexter war den Tunnelratten beigetreten.
Seit sechs Jahren machten die Tunnelratten mit ständig wechselndem Personal den schmutzigsten, gefährlichsten und mit Abstand schaurigsten Job im Vietnamkrieg, doch ihr Tun war so geheim und ihre Zahl so gering, dass sie den meisten Leuten, selbst Amerikanern, bis heute nur ein vager oder überhaupt kein Begriff sind.
Wahrscheinlich gab es in all den Jahren nicht mehr als dreihundertfünfzig. Eine kleine Einheit bei den Pionieren der Big Red One und eine entsprechende Einheit von der 25. Division, der »Tropic Lightning«. Einhundert von ihnen kamen nie wieder
nach Hause. Weitere hundert wurden, schreiend und mit den Nerven am Ende, aus der Gefechtszone geschleppt, kämpften nicht mehr und machten stattdessen eine Traumatherapie. Der Rest kehrte in die Staaten zurück, von Natur aus verschlossene, wortkarge Einzelgänger, die selten darüber sprachen, was sie getan hatten.
Zu Hause in den Vereinigten Staaten, wo man normalerweise keine Hemmungen hat, seine Kriegshelden zu feiern, verlieh man ihnen keine Orden und stellte nicht einmal eine Gedenktafel für sie auf. Sie kamen von nirgendwo, taten, was sie taten, weil es getan werden musste, und verschwanden wieder in der Versenkung. Ihre Geschichte begann, weil sich ein Sergeant am Hintern piekte.
Die Amerikaner waren keineswegs die ersten Eindringlinge in Vietnam, nur die letzten. Vor ihnen waren die Franzosen da gewesen und hatten aus den drei Provinzen Tongkin (Norden), Annam (Mitte) und Cochinchina (Süden) nebst Laos und Kambodscha ein Kolonialreich errichtet.
Die japanischen Invasoren verdrängten die Franzosen 1942, und nach Japans Niederlage 1945 glaubten die Vietnamesen, sich nun endlich ohne Fremdherrschaft vereinigen zu können. Doch die Franzosen hatten andere Pläne und kehrten zurück. Der führende Unabhängigkeitskämpfer war der Kommunist Ho Chi Minh. Er gründete die Widerstandsarmee Vietminh, deren Angehörige in den Dschungel zurückkehrten und den Kampf fortsetzten. So lange, wie es eben dauerte.
Eine Hochburg des Widerstands war das dicht bewaldete und landwirtschaftlich genutzte Gebiet nordwestlich von Saigon, das bis zur kambodschanischen Grenze reichte. Die Franzosen widmeten ihm besondere Aufmerksamkeit (wie später auch die Amerikaner) und führten eine Strafexpedition nach der anderen durch. Die ansässigen Bauern suchten ihr Heil nicht in der Flucht, sondern buddelten.
Sie besaßen keine Maschinen, nur ihre ameisenartige Fähigkeit
zu harter Arbeit, ihre Geduld, ihre Ortskenntnis und ihre List. Und sie hatten Hacken, Schaufeln und aus Palmblättern geflochtene Körbe. Wie viele Millionen Tonnen Erde sie bewegten, wird man nie erfahren. Aber graben und Erde wegbringen, das taten sie. Nach der Niederlage und dem Abzug der Franzosen 1954 bestand das gesamte Dreieck aus einem Labyrinth von Stollen und Tunneln. Und niemand wusste davon.
Die Amerikaner kamen und stützten ein Regime, das für den Vietminh nur die Marionette einer weiteren Kolonialmacht darstellte. Sie kehrten in den Dschungel zurück, nahmen den Guerillakrieg wieder auf und begannen auch wieder zu buddeln. Bis 1964 hatten sie ein dreihundert Kilometer langes System aus Tunneln, Bunkern, Verbindungsstollen und Verstecken angelegt, alles unter der Erde.
Die Komplexität des Tunnelsystems war atemberaubend, als die Amerikaner endlich dahinterkamen, was da unten vor sich ging. Die Schachteingänge waren so gut getarnt, dass man sie auch aus nächster Nähe am Dschungelboden nicht erkennen konnte. Darunter lagen bis zu fünf Etagen, die unterste in sechzehn Metern Tiefe, alle durch schmale, gewundene Gänge miteinander verbunden, durch die nur ein Vietnamese oder ein kleiner drahtiger Weißer kriechen konnte.
Zwischen den Etagen gab es Falltüren, die mal nach oben, mal nach unten führten. Auch sie waren getarnt und sahen
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