Der Raecher
Guardia zum Norfolk International warten wollte, nahm er den Wagen und fuhr los. Aus New York hinaus, über die Brücke nach Newark, durch das Land, das er aus der Zeit, als er von Baustelle zu Baustelle zog, noch gut kannte. Er ließ New Jersey hinter sich, fuhr quer durch Pennsylvania und Delaware, dann nach Süden, an Baltimore und Washington vorbei, bis er die hinterste Ecke Virginias erreichte.
Im Leichenschauhaus von Norfolk starrte er in das einst so schöne und geliebte Gesicht und nickte dem Detective von der Mordkommission wortlos zu. Bei einer Tasse Kaffee erfuhr er die wichtigsten Fakten. Sie sei von einer oder mehreren unbekannten Personen misshandelt worden und an schweren inneren Blutungen gestorben. Die Täter hätten die Leiche vermutlich im Kofferraum eines Wagens in den ländlichsten Teil des ersten Polizeibezirks von Virginia City transportiert und dort ausgeladen. Die Ermittlungen gingen gut voran. Aber Dexter wusste, dass das nur die halbe Wahrheit war.
Er machte eine ausführliche Aussage, erzählte von »Emilio«, doch die Detectives reagierten darauf nicht. Er bat um den Leichnam seiner Tochter. Die Polizei hatte keine Einwände, doch die Entscheidung lag beim Coroner. Und das dauerte. Formalitäten. Der Amtsweg. Er brachte sein Auto nach New York zurück, kam wieder und wartete. Schließlich begleitete er den Leichnam seiner Tochter im Leichenwagen nach Hause in die Bronx.
Der Sarg war geschlossen. Er wollte seiner Frau und den anderen Marozzis den Anblick ersparen. Die Beerdigung fand vor Ort statt. Amanda Jane wurde drei Tage vor ihrem siebzehnten Geburtstag begraben. Eine Woche später kehrte ihr Vater nach Virginia zurück.
Sergeant Austin saß in seinem Büro im Polizeipräsidium in der Crawford Street Nr. 711, als der Diensthabende anrief und ihm mitteilte, dass ein Mr. Dexter ihn zu sprechen wünsche. Der
Name sagte ihm nichts. Er brachte ihn nicht mit der toten Hure Lorraine in Verbindung, deren malträtiertes Gesicht er auf einem Foto erkannt zu haben glaubte.
Er fragte nach Mr. Dexters Anliegen und erfuhr, dass der Besucher eine Aussage zu den laufenden Ermittlungen machen wolle. Er wurde vorgelassen.
Portsmouth ist die älteste der sechs Städte. Lange vor der Revolution von den Briten gegründet, kauert sie heute am Südwestufer des Elizabeth River. Ihre gedrungenen Backsteinhäuser blicken über das Wasser auf die modernen, funkelnden Hochhäuser von Norfolk. Doch hierher kommen viele Militärangehörige, wenn sie sich abends vergnügen wollen. Sergeant Austins Sittendezernat diente nicht zur Dekoration.
Im Vergleich zu der muskulösen, massigen Gestalt des ehemaligen Football-Verteidigers und jetzigen Polizisten machte der Besucher äußerlich nicht viel her. Er blieb einfach vor dem Schreibtisch stehen und sagte: »Erinnern Sie sich an das Mädchen von vor vier Wochen? Eine Bande hat sie heroinsüchtig gemacht und zur Prostitution gezwungen, vergewaltigt und totgeprügelt. Ich bin ihr Vater.«
Beim Sergeant schrillten die Alarmglocken. Er war aufgestanden und hatte die Hand ausgestreckt. Jetzt zog er sie zurück. Aufgebrachte, rachsüchtige Bürger hatten sein vollstes Verständnis, aber mehr durften sie nicht erwarten. Sie waren jedem Polizisten, der seine Arbeit tat, ein Gräuel und konnten gefährlich werden.
»Das tut mir Leid, Sir. Ich kann Ihnen versichern, dass wir alles tun...«
»Keine Sorge, Sergeant. Ich möchte nur eine Auskunft. Dann lasse ich Sie in Ruhe.«
»Mr. Dexter, ich kann mir vorstellen, wie Ihnen zumute ist, aber ich bin nicht befugt...«
Der Besucher hatte die rechte Hand in die Jackentasche geschoben und zog etwas hervor. Hatte das Wachpersonal am Eingang
geschlafen? Besaß der Mann eine Waffe? Seine eigene lag bedauerlicherweise drei Meter entfernt in einer Schublade.
»Was tun Sie denn da, Sir?«
»Ich lege nur etwas Blech auf Ihren Schreibtisch, Sergeant Austin.«
Auch Sergeant Austin hatte Militärdienst geleistet, war aber nie aus den Staaten herausgekommen.
Ungläubig starrte er auf zwei Silver Stars, drei Bronze Stars, die Verdienstmedaille der Army und vier Verwundetenabzeichen. So etwas hatte er noch nie gesehen.
»Vor langer Zeit und in einer anderen Welt habe ich mit meinem Blut das Recht erworben zu erfahren, wer mein Kind umgebracht hat. Sie schulden mir diesen Namen, Mr. Austin.«
Der Polizist trat ans Fenster und blickte nach Norfolk hinüber. Das war gegen die Vorschriften, gegen alle Vorschriften. Es konnte ihn den
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