Der Raritätenladen
Schweigens kehrten ihre Gedanken oft und ängstlich zu ihrem Großvater zurück, und sie hätte gern gewußt, wie weit er sich ihres früheren Lebens erinnere und ob er je die veränderten Verhältnisse, ihre bis vor kurzem so große Hilflosigkeit und Not ganz erfaßt hätte. Während sie umherwanderten, hatte sie selten daran gedacht, jetzt aber drängte sich ihr unwillkürlich die Frage auf, was wohl aus ihnen werden mußte, wenn er krank würde oder ihr selbst die Kräfte versagten. Er war sehr geduldig und willig, war glücklich, wenn er irgendeine kleine Arbeit auszuführen hatte, und war froh, daß er sich nützlich machen konnte; aber stets lebte er in demselben teilnahmslosen Zustande dahin, ohne daß es den Anschein hatte, als ob es je besser mit ihm werden würde, kurz, er war nur ein Kind, ein armes, gedankenloses, an nichts teilnehmendes Wesen, ein harmloser, törichter alter Mann, in dem nur zärtliche Liebe und Aufmerksamkeit für seine Enkelin lebten, empfänglich für angenehme und schmerzliche Eindrücke, aber sonst tot für alles. Diese Überzeugung war sehr schmerzlich für sie, und es erfüllte sie mit Trauer, sehen zu müssen, wie er zuweilen müßig neben ihr saß, sie anlächelte und ihr zunickte, wenn sie sich umsah, oder wenn er irgendein kleines Kind liebkoste und auf und ab führte, was er oft eine ganze Stunde lang zu tun pflegte, wie er vollständig verwirrt wurde durch dessen einfache Fragen und doch so geduldig blieb in seiner Schwäche, deren er sich beinahe bewußt zu sein schien, denn er demütigte sich sogar vor dem Geiste eines Kindes; dies mit ansehen zu müssen, erfüllte sie mit solcher Trauer, daß sie oft in Tränen ausbrach,
sich in irgendeinen Winkel zurückzog und auf die Knie niederfiel, um für seine Wiederherstellung zu beten.
Aber diesen Zustand des Alten mit ansehen zu müssen war nicht ihr größter Kummer, denn er war dann wenigstens zufrieden und ruhig; noch war es das Bitterste, in einsamen Stunden über seine Veränderung nachzudenken, obgleich dies harte Prüfungen für ein so junges Herz waren. Es sollten noch weit tiefere und schwerere Leiden kommen.
Eines Abends, nachdem sie nichts mehr zu tun hatten, ging Nell mit ihrem Großvater spazieren. Sie hatten bereits mehrere Tage das Haus nicht verlassen können, und da das Wetter warm war, streiften sie weit umher. Vor der Stadt draußen schlugen sie einen Fußpfad ein, der durch liebliche Felder führte, und glaubten, er würde wieder in die Straße einbiegen, die sie verlassen hatten, so daß sie dann auf demselben Weg nach Hause kämen. Er machte jedoch einen viel weiteren Bogen, als sie vorausgesetzt hatten, und so wurden sie weitergelockt, bis die Sonne im Untergehen war; da hatten sie auch den Weg gefunden, den sie suchten, und sie setzten sich nieder, um auszuruhen.
Der Himmel hatte sich allmählich bewölkt und war nun schwarz und drohend, ausgenommen dort, wo die scheidende Sonne in voller Glorie Massen von Gold und glühendem Feuer auftürmte, dessen glimmende Asche hier und da durch den schwarzen Schleier brach und ihren rötlichen Schein auf die Erde hinunterwarf. Der Wind begann in hohlem Tone zu raunen, als die Sonne unterging, um den heitern Tag anderswohin zu tragen; und ihr entgegen krochen ganze Gebirge finsterer Wolken, die mit Blitz und Donner drohten. Bald fielen schwere Regentropfen, und wie die Sturmwolken einherflogen, füllten andere den leer gewordenen Raum und verbreiteten sich über das ganze Firmament. Man hörte das dumpfe Rollen fer
nen Donners, dann zuckten Blitzstrahlen auf, und endlich schien die Finsternis einer Stunde sich in einem Augenblick zusammengeballt zu haben.
Da der alte Mann und das Kind sich fürchteten, unter einem Baum oder einer Hecke Schutz zu suchen, eilten sie auf der Landstraße fort in der Hoffnung, ein Haus zu finden, das ihnen ein Obdach böte gegen den Sturm, der jetzt mit aller Macht losbrach und in jedem Augenblick an Ungestüm zunahm. Durchnäßt von den Regengüssen, betäubt durch den ohrenzerreißenden Donner und geblendet durch das Leuchten der zackigen Blitze, wären sie wahrscheinlich an einem einzeln stehenden Hause vorübergegangen, ohne eine Ahnung von dessen unmittelbarer Nähe zu haben, wenn nicht ein an der Tür stehender Mann ihnen laut zugerufen hätte, einzutreten.
»Eure Ohren sollten jedenfalls besser sein als die anderer Leute, wenn ihr euch so wenig aus der Gefahr macht, durch den Blitz geblendet zu werden«, sagte er, indem er von
Weitere Kostenlose Bücher