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Der Raritätenladen

Der Raritätenladen

Titel: Der Raritätenladen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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töten beabsichtigte! Eine Ohnmachtsschwäche wandelte sie an. Es war so. Die Gestalt war jetzt in der Kammer, und sie – noch stumm, ganz stumm und fast sinnlos – stand da und sah zu.
    Die Tür war halb offen. Ohne zu wissen, was sie tun sollte, sondern nur in der Absicht, ihn zu retten oder sich mit ihm töten zu lassen, schwankte sie vorwärts und sah hinein. Aber welch ein Anblick begegnete hier ihren Augen!
    Das Bett war noch unberührt, war glatt und leer. Und an einem Tische saß der alte Mann selbst, das einzige lebende Wesen in dem Gemache, sein blasses Gesicht zusammengekniffen und zugespitzt durch die Gier, die seinen Augen einen
unnatürlichen Glanz verlieh – ja, da saß er und zählte das Geld, dessen sie durch seine Hände beraubt worden war.

Einunddreißigstes Kapitel
    Mit viel mehr wankenden und unsichereren Schritten, als jene gewesen, mit denen sich Nell dem Gemache genähert hatte, trat sie von der Tür weg und tappte nach ihrem Kämmerchen zurück. Der Schrecken, den sie eben erst ausgestanden, war nichts gegen den, der sich jetzt ihrer bemächtigte. Kein fremder Räuber, kein verräterischer Wirt, der sich an der Beraubung seiner Gäste beteiligte oder an ihre Betten schlich, um sie im Schlaf zu ermorden, kein nächtlicher Dieb, wie schrecklich und entsetzlich auch solche Erscheinungen gewesen wären, hätte in ihrer Seele nur die Hälfte des Grausens erwecken können, das sie empfand, als sie ihren stummen Besuch erkannte. Der grauköpfige alte Mann, der wie ein Gespenst in ihre Kammer schlüpfte, das Gewerbe eines Diebes trieb, während er sie im Schlafe wähnte, dann seine Beute davontrug und mit jenem unheimlichen Entzücken, dessen Zeuge sie gewesen, seinen Schatz betrachtete, war schlimmer, unermeßlich schlimmer, und der Gedanke an ihn für den Augenblick schrecklicher als alles, was ihr die wildeste Phantasie hätte vormalen können! Wenn er zurückkehrte! Es war kein Schloß oder Riegel an der Tür, und wenn er in der Meinung, er habe noch etwas Geld zurückgelassen, wieder zurückkehrte, um das übrige zu suchen – ein unbestimmtes Entsetzen und eine namenlose Angst erfüllte sie bei dem Gedanken, er könnte wieder mit demselben verstohlenen Schritte hereinschleichen und sein Gesicht dem leeren Bette zuwenden, während sie sich dicht vor seinen Füßen zusammenkauerte, um seine Berüh
rung zu vermeiden, die beinahe unerträglich war. Sie setzte sich nieder und lauschte. Horch! Ein Fußtritt auf der Treppe, und nun ging die Tür langsam auf. Es war zwar nur Einbildung, aber eine Einbildung, die alle Schrecken der Wirklichkeit in sich vereinigte – nein, sie war schrecklicher, denn in der Wirklichkeit hätte es mit dem Kommen und Gehen ein Ende gehabt, aber dieses marternde Phantasiebild tauchte immer von neuem auf und wollte sich durchaus nicht verscheuchen lassen.
    Das Gefühl, das das Kind bedrückte, war das eines dunkeln und unbestimmten Entsetzens. Sie hatte keine Furcht vor dem lieben alten Großvater, dessen zärtliche Liebe zu ihr eine solche Geistesverwirrung veranlaßt hatte; aber der Mann, den sie in dieser Nacht gesehen hatte, ganz beherrscht von dem Glücksspiel, wie er in ihr Kämmerchen schlich und das Geld bei dem Flackerscheine des Lichtes zählte, erschien ihr wie ein zweites Wesen in seiner Gestalt, wie ein scheußliches Zerrbild seines Äußern, wie ein beklemmendes Etwas, vor dem sie zurückbebte und vor dem sie sich nur um so mehr fürchtete, weil es ihm so ähnlich und immer um sie war wie er selbst. Sie konnte kaum diesen alten Mann mit ihrem liebevollen Freund in Verbindung bringen, außer bei dem Gedanken, ihn verloren zu haben, ihren teuern Gefährten, der ihm so ähnlich und doch wieder so unähnlich war. Sie hatte geweint, als sie ihn so düster und teilnahmslos gesehen hatte: wieviel größere Ursache aber hatte sie jetzt zu weinen!
    Die Kleine saß aufrecht da und grübelte über diese Dinge, bis das Schreckensbild in ihrem Geiste so düster und grauenhaft wurde, daß sie deutlich fühlte, es würde eine Erleichterung für sie sein, wenn sie die Stimme des alten Mannes hörte oder, falls er schliefe, ihn doch wenigstens sehen könnte, um dadurch einen Teil der Befürchtungen zu zerstreuen, die sein
Bild begleiteten. Sie stahl sich wieder die Treppe hinunter in den Gang. Die Tür war noch immer halb offen, wie sie sie früher gesehen hatte, und das Licht brannte noch immer wie zuvor.
    Sie hatte ihre eigene Kerze in der Hand und wollte, wenn sie ihn

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