Der Raritätenladen
Zeit und Ort waren ganz zu Betrachtungen geeignet, und sie dachte in stiller Hoffnung oder vielleicht besser in stiller Ergebung an die Vergangenheit, die Gegenwart und das, was ihr wohl noch bevorstehen mochte. Zwischen ihr und
dem alten Mann war allmählich eine Scheidewand offenbar geworden, die leidvoller als jeder frühere Kummer war. Jeden Abend und oft auch tagsüber war er abwesend, ohne daß er jemand bei sich gehabt hätte; und sie wußte wohl, wohin er ging und welche Gründe ihn fortführten – ach nur zu wohl; denn sie ersah es aus den beharrlichen Eingriffen in ihre spärlich bestellte Börse und aus seinen hohlen Blicken –, doch er wich jeder Frage aus, beobachtete eine starre Verschlossenheit und mied sogar ihre Gegenwart.
Sie saß und dachte traurig über die Veränderung nach und brachte sie gewissermaßen mit allem, was um sie her vorging, in Verbindung, als eine ferne Kirchturmuhr neun schlug. Mit dem ersten Glockenschlag trat sie den Heimweg an und wandte sich gedankenvoll der Stadt zu.
Sie war bei einer kleinen hölzernen Brücke angelangt, die über den Strom zu einer auf ihrem Wege liegenden Wiese führte, als sie plötzlich ein rötliches Licht bemerkte und bei genauerem Hinsehen unterschied, daß es wahrscheinlich von einem Zeltlager von Zigeunern herkam, die an einer Ecke unfern des Weges ein Feuer angemacht hatten und in dessen Kreise lagen oder saßen. Da sie zu arm war, um sich vor Zigeunern fürchten zu müssen, änderte sie ihre Richtung nicht – was auch in der Tat nicht ohne großen Umweg möglich gewesen wäre –, sondern geradeaus weitergehend, beschleunigte sie nur ihre Schritte.
Eine Regung schüchterner Neugier veranlaßte sie, als sie sich dem Orte näherte, einen flüchtigen Blick auf das Feuer zu werfen. Zwischen dem Feuer und ihr stand eine Gestalt, deren Umrisse so scharf gegen das Licht abstachen, daß sie plötzlich stehenbleiben mußte. Dann nahm sie aber ihren Weg wieder auf, als wäre sie inzwischen mit sich zu Rate gegangen und zu dem Schlusse gekommen, daß es nicht so sein könne, oder
als hätte sie sich überzeugt, daß die Gestalt nicht die Person sei, für die sie sie gehalten hatte. In demselben Augenblicke jedoch wurde das Gespräch am Feuer, oder was immer es sein mochte, wieder aufgenommen, und die Töne der sprechenden Stimme – sie konnte die Worte nicht unterscheiden – klangen ihr so bekannt wie ihre eignen.
Sie wandte sich um und blickte zurück. Der Sprecher hatte früher gesessen, stand aber nun aufrecht da und stützte sich mit beiden Händen auf einen Stock. Die Haltung war ihr nicht weniger bekannt als vorhin die Stimme. Es war ihr Großvater.
Ihr erster Gedanke war, ihn zu rufen, ihr zweiter der neugierige Wunsch, zu wissen, wer seine Gefährten seien und welch ein Beweggrund sie zusammengeführt habe. Eine unbestimmte trübe Ahnung stieg in ihr auf, und einem innern Antriebe folgend, näherte sie sich der Stelle, ging jedoch nicht über das offene Feld, sondern kroch längs des Geheges hin.
Auf diese Weise näherte sie sich dem Feuer bis auf wenige Schritte, und als sie sich zwischen einigen jungen Bäumen aufrichtete, konnte sie alles sehen und hören, ohne Gefahr, bemerkt zu werden.
Es waren keine Weiber und Kinder da, wie sie es gelegentlich ihrer Wanderschaft bei andern Zigeunerlagern gesehen hatte, sondern nur ein einziger Zigeuner, ein schlanker, athletisch gebauter Mann, der mit gekreuzten Armen in einiger Entfernung an einen Baum lehnte und unter seinen schwarzen Augenwimpern weg bald auf das Feuer, bald auf drei andere Männer schaute, die im Lager waren, und ihrem Gespräch mit aufmerksamem, aber halb verstecktem Interesse zuhörte. Einer von diesen dreien war ihr Großvater. In den andern erkannte sie die Männer, die in jener verhängnisvollen Gewitternacht im Wirtshause Karten spielten: den sogenannten Isaak
List und seinen mürrischen Gefährten. Eins jener niedrigen gewölbten Zigeunerzelte, die bei diesem Volke üblich sind, befand sich ganz in der Nähe, war aber leer oder schien es wenigstens zu sein.
»Ihr wollt also gehen?« sagte der beleibte Mann, der von der Erde aus, auf der er ganz gemächlich ausgestreckt lag, zu ihrem Großvater aufsah. »Vor einem Augenblick noch hattet Ihrs ja gewaltig eilig. So geht, wenn Ihr wollt; Ihr seid hoffentlich Euer eigner Herr!«
»Ärgert ihn nicht«, entgegnete Isaak List, der auf der andern Seite des Feuers wie ein Frosch hockte und sich so zusammengedreht hatte, daß
Weitere Kostenlose Bücher