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Der Raritätenladen

Der Raritätenladen

Titel: Der Raritätenladen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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alte Mann fort, indem er sie auf die Wange tätschelte; »zu blaß. Sie ist nicht mehr, wie sie gewesen.«
    »Wann?« fragte das Kind.
    »Ha!« entgegnete der alte Mann, »freilich – wann? Vor wieviel Wochen? Könnte ich sie an den Fingern herzählen? Doch lassen wir alles ruhen; es ist gut, daß es vorbei ist.«
    »O freilich, viel besser, lieber Großvater«, versetzte das Kind. »Wir wollen sie vergessen, die schlimmen Wochen, und wenn wir sie je wieder ins Gedächtnis rufen, soll es nur so sein, wie man sich eines unruhigen Traumes erinnert, der entschwunden ist.«
    »Bst!« erwiderte der alte Mann, indem er ihr hastig mit der Hand zuwinkte und sich umsah; »rede mir nicht mehr von dem Traume und all dem Elend, das er gebracht hat. Hier gibt es keine Träume. Es ist ein ruhiger Ort, von dem sie sich fernhalten. Wir wollen nie wieder an sie denken, damit sie uns nicht abermals verfolgen. Eingesunkene Augen und hohle Wangen, Nässe, Kälte und Hunger, und vor all diesem die Schrecken, die sogar noch schlimmer waren; wir müssen solche Dinge vergessen, wenn wir hier Frieden haben wollen.«
    »Dem Himmel sei Dank für diese segensreiche Wandlung!« betete das Kind in den Tiefen seines Herzens.
    »Ich will geduldig sein«, sagte der alte Mann, »demütig, gehorsam und von Herzen dankbar, wenn du mich hierbleiben lassen willst. Aber du mußt dich nicht vor mir verstecken, dich nicht allein wegstehlen, sondern mich an deiner Seite lassen. Glaube mir, ich will ganz wahr und aufrichtig sein, Nell.«
    »Ich mich allein wegstehlen? Ei, das wäre in der Tat ein schöner Spaß«, versetzte das Kind mit erkünstelter Heiterkeit. »Sehen Sie, lieber Großvater, wir wollen diesen Platz da zu unserm Garten umwandeln; warum nicht? Er ist sehr schön, und morgen wollen wir anfangen, gemeinschaftlich zu arbeiten, Seite an Seite.«
    »Das ist ein wackerer Gedanke!« rief ihr Großvater. »Vergiß es nicht, mein Herz, wir wollen morgen anfangen.«
    Wer war entzückter als der alte Mann bei Beginn der Arbeit am nächsten Morgen? Wer ahnte so wenig von allem, was mit dem Orte in Verbindung stand, als er? Sie pflückten das lange Gras und die Nesseln von den Gräbern, schnitten die halberstickten Gesträuche und Wurzeln aus, machten den Rasen glatt und säuberten ihn von den Blättern und dem Unkraut. Sie waren noch in eifriger Arbeit begriffen, als Nell den Kopf von dem Boden, über den sie gebeugt war, erhob und den Bachelor bemerkte, der auf dem nahen Zaun saß und ihnen schweigend zuschaute.
    »Eine liebevolle Arbeit«, sagte der kleine Herr, indem er Nells Knicks mit einem Kopfnicken erwiderte. »Habt ihr alles dies heute morgen vollbracht?«
    »Es ist nur sehr wenig im Vergleich mit dem, was wir noch zu tun gedenken«, entgegnete die Kleine mit niedergeschlagenen Augen.
    »Gute Verrichtung, gute Verrichtung«, sagte der Bachelor. »Aber gebt ihr euch nur mit den Gräbern von Kindern und jungen Leuten ab?«
    »Wir werden bald auch zu den andern kommen, Sir«, versetzte Nell mit weicher Stimme, indem sie den Kopf beiseite wandte.
    Es war ein unbedeutender Umstand, vielleicht Absicht, vielleicht Zufall oder wohl eine unbewußte Sympathie des Kin
des mit der Jugend. Es schien jedoch ihrem Großvater aufzufallen, obschon er es zuvor nicht beachtet hatte. Er sah hastig auf die Gräber und dann besorgt auf Nell, drückte sie an seine Brust und hieß sie aufhören, um auszuruhen. Etwas lang Vergessenes schien schwach in seiner Erinnerung auftauchen zu wollen. Es ging nicht vorüber, wie es sonst bei viel wichtigeren Dingen der Fall gewesen, sondern bemächtigte sich seiner mehr und mehr, indem es an diesem Tage und auch später oftmals wiederkehrte. Einmal, als sie eben an der Arbeit waren, bemerkte die Kleine, daß er sich oft umwandte und unruhig nach ihr sah, wie wenn er irgendeinen peinlichen Zweifel zu lösen oder wirre Gedanken zu sammeln suchte; sie drang daher in ihn, ihr den Grund mitzuteilen. Er sagte jedoch, es sei nichts – nichts – und indem er ihr Köpfchen auf seinen Arm legte, streichelte er ihre blasse Wange mit der Hand und flüsterte vor sich hin, sie werde mit jedem Tage stärker und würde nun bald ein erwachsenes Mädchen sein.

Fünfundfünfzigstes Kapitel
    Von dieser Zeit an erwachte in der Seele des alten Mannes eine ängstliche Besorgtheit um das Kind, die nie einschlief oder von ihm wich. Es gibt Saiten im Menschenherzen – fremdartige, wechselnde Akkorde –, die nur der Zufall zum Ertönen bringt und die

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