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Der Raritätenladen

Der Raritätenladen

Titel: Der Raritätenladen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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Zuerst besucht man sie morgens, mittags und abends; aber bald werden die Besuche weniger häufig, von einem Mal des Tages zu einem Mal in der Woche; von einem Mal in der Woche zu einem Mal im Monat; dann kommen lange und unregelmäßige Zwischenräume, und endlich hörts ganz auf. Solche Liebeszeichen gedeihen selten lange. Ich habe gesehen, wie die kürzesten Sommerblumen die Zärtlichkeit der Zurückgebliebenen überlebten.«
    »Das hören zu müssen, tut mir sehr leid«, sagte das Kind.
    »Ach! So sagen auch die vornehmen Leute, die herkommen, um hier alles anzusehen«, versetzte der alte Mann kopfschüttelnd; »aber ich sage anders. ›Es ist eine gar hübsche Sitte, die ihr hier in dieser Gegend habt‹, sagen sie manchmal zu mir, ›die Gräber zu bepflanzen, aber es ist traurig, sie alle welk oder tot zu sehen.‹ Ich bitte sie dann um Verzeihung und sage ihnen, meiner Ansicht nach sei dies ein gutes Zeichen für das Glück der Lebenden. Und so ist es auch. Das ist das Leben.«
    »Vielleicht lernen aber die Trauernden, bei Tag zu dem blauen Himmel und bei Nacht zu den Sternen aufzusehen? Vielleicht denken sie, daß ihre Toten dort sind und nicht in den Gräbern?« sagte Nell mit ernster Stimme.
    »Möglich«, entgegnete der alte Mann zweifelnd. »Möglich!«
    »Mag nun mein Glaube richtig sein oder nicht«, dachte die Kleine in ihrem Innern, »ich will diesen Ort zu meinem Garten machen. Es wird wenigstens nichts Unrechtes sein, Tag um Tag hier zu arbeiten, und mir werden dabei sicherlich allerlei Gedanken kommen.«
    Der Totengräber achtete ihrer glühenden Wange und ihres tränenfeuchten Auges nicht, sondern wandte sich an den alten David, den er beim Namen rief. Augenscheinlich beunruhigte ihn noch immer Becky Morgans Alter, obgleich es dem Kinde nicht recht klar werden wollte, warum.
    Erst beim zweiten oder dritten Ruf wurde der alte Mann aufmerksam. Er hielt in seiner Arbeit inne, lehnte sich auf seinen Spaten und hielt die Hand hinter sein taubes Ohr.
    »Habt Ihr gerufen?« fragte er.
    »Ich habe eben bei mir gedacht, David«, versetzte der Totengräber, »daß sie« – er deutete nach dem Grabe – »ziemlich viel älter gewesen sein muß als Ihr oder ich.«
    »Neunundsiebzig«, antwortete der alte Mann kopfschüttelnd; »ich sage Euch, daß ich es mit eignen Augen gesehen habe.«
    »Gesehen?« versetzte der Totengräber; »ja, aber David, Weiber sagen nicht immer die Wahrheit, wenn sichs um ihr Alter handelt.«
    »Das ist allerdings wahr«, sagte der andere alte Mann mit einem plötzlichen Leuchten in seinen Augen. »Sie ist vielleicht älter gewesen.«
    »Gewiß muß es so sein. Man darf nur daran denken, wie alt sie aussah. Ihr und ich, wir beide waren nur Knaben gegen sie.«
    »Sie sah alt aus«, entgegnete David. »Ihr habt recht, sie sah alt aus.«
    »Und erinnert Euch nur, wie alt sie schon seit vielen, vielen Jahren aussah. Sagt, konnte sie da zuletzt nur neunundsiebzig sein, nur so alt wie wir?« sagte der Totengräber.
    »Ja, sie muß allerwenigstens fünf Jahre älter sein!« rief der andere.
    »Fünf?« erwiderte der Totengräber. »Zehn. Gute neunundachtzig. Ich entsinne mich noch recht gut, wie ihre Tochter starb. Sie ist neunundachtzig auf den Tag hin und versuchte es nun, um zehn Jahre jünger zu gelten. O menschliche Eitelkeit!«
    Der andere alte Mann blieb auch nicht zurück mit einigen moralischen Reflexionen über dieses fruchtbare Thema, und beide brachten eine Unmenge von Beweisen auf, so daß es
zweifelhaft wurde, ob die Heimgegangene statt des ihr beigemessenen Alters nicht etwa gar die patriarchalische Zahl von hundert Jahren erreicht habe. Nachdem diese Frage zu ihrer beiderseitigen Zufriedenheit gelöst war, stand der Totengräber mit Hilfe seines Freundes auf, um sich zu entfernen.
    »Es ist kühl, wenn man so hier sitzt, und ich muß mich in acht nehmen – bis zum nächsten Sommer«, sagte er, als er sich anschickte hinwegzuhinken.
    »Wie?« fragte der alte David.
    »Der arme Kerl ist sehr taub. Gott befohlen!« rief der Totengräber.
    »Ah!« sagte der alte David ihm nachsehend; »er nimmt gar schnell ab. Mit jedem Tage altert er mehr.«
    Und so trennten sie sich, jeder fest überzeugt, der andere habe weniger Lebenskräfte als er selbst, und beide ungemein getröstet und beruhigt durch die kleine Notlüge, über die sie hinsichtlich Becky Morgans eins geworden waren. Nun war der Tod der letzteren nicht länger eine unbequeme Mahnung und würde sie für die nächsten zehn

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