Der Raritätenladen
imstande zu arbeiten; als jedoch eines Tages ein Grab gemacht werden sollte, kam er herzu, um seinen Stellvertreter zu beaufsichtigen. Er war in einer gesprächigen Stimmung, und Nell, die anfangs an seiner Seite stand, sich aber nachher auf das Gras zu seinen Füßen setzte, begann, ihr nachdenkliches Gesichtchen auf ihn gerichtet, mit ihm zu plaudern.
Nun war der Mann, der zur Zeit das Amt des Totengräbers versah, ein wenig älter als dieser, obgleich noch viel rüstiger. Er war jedoch sehr schwerhörig, und wenn der Totengräber, der vielleicht in sechs Stunden kaum eine Meile zurücklegen konnte, ihm gegenüber eine Bemerkung über seine Arbeit fallenließ, entging es dem Kinde nicht, daß dies mit einer Art ungeduldigen Mitleids mit der Schwäche des Gehilfen geschah, als ob er selbst der stärkste und kräftigste Mensch auf Erden wäre.
»Es tut mir weh, einem solchen Geschäft zusehen zu müssen«, sagte Nell näher tretend. »Ich habe nichts davon gehört, daß jemand gestorben ist.«
»Sie wohnte in einem andern Dörfchen, meine Liebe«, entgegnete der Totengräber, »drei Meilen von hier.«
»War sie jung?«
»J-ja«, sagte der Totengräber; »ich glaube, erst vierundsechzig. David, war sie mehr als vierundsechzig?«
David, der emsig grub, hörte nichts von dieser Frage. Da der Totengräber ihn mit seiner Krücke nicht erreichen konnte und auch nicht imstande war, ohne Beistand aufzustehen, weckte er seine Aufmerksamkeit dadurch, daß er ihm einen Brocken Erde auf seine rote Nachtmütze warf.
»Was solls?« fragte David heraufschauend.
»Wie alt war Becky Morgan?« fragte der Totengräber.
»Becky Morgan?« wiederholte David.
»Ja«, versetzte der Totengräber, indem er in halb mitleidigem, halb zornigem Tone, den der alte Mann nicht hören konnte, hinzusetzte: »Ihr werdet nachgerade sehr taub, David, schrecklich taub, wahrhaftig!«
Der alte Mann hielt in seiner Arbeit inne, und indem er seinen Spaten mit einem Stück Schiefer reinigte, das er zu diesem Zweck bei sich hatte und dabei den Grundstoff von der Himmel weiß wie vielen Becky Morgans abkratzte, schickte er sich an, die Sache in Erwägung zu ziehen. »Laßt mich nachdenken«, sprach er. »Ich sah gestern abend, was sie auf den Sarg gesetzt hatten; war es nicht neunundsiebzig?«
»Nein, nein«, sagte der Totengräber.
»Ach ja, ich glaube doch«, entgegnete der alte Mann seufzend, »denn ich erinnere mich, sie war ziemlich in unserm Alter. Ja, es war neunundsiebzig.«
»Seid Ihr sicher, daß Ihr Euch nicht in einer Ziffer verschaut habt, David?« fragte der Totengräber mit Spuren einiger Erregung.
»Wie?« antwortete der alte Mann. »Sagt das noch einmal.«
»Er ist sehr taub. Er ist wirklich sehr taub«, rief der Totengräber ärgerlich. »Wißt Ihr auch gewiß, daß Ihr die Ziffer richtig gelesen habt?«
»O freilich«, versetzte der alte Mann, »warum nicht?«
»Er ist ganz besonders schwerhörig«, murmelte der Totengräber vor sich hin; »ich glaube, er wird schon kindisch.«
Nell wunderte sich, was ihn wohl zu dieser Ansicht geführt haben mochte, da der alte Mann in Wahrheit ebensogut bei Sinnen zu sein schien als er selber und noch obendrein bedeutend kräftiger war. Der Totengräber sprach jedoch nichts mehr, weshalb sie es wieder vergaß und zu reden fortfuhr.
»Ihr habt mir von Eurer Gärtnerei erzählt«, sagte sie. »Pflanzt Ihr auch hier herum etwas?«
»Auf dem Kirchhof?« entgegnete der Totengräber. »Fällt mir nicht ein.«
»Ich habe aber einige Blumen und kleine Gesträuche bemerkt«, erwiderte die Kleine; »seht Ihr, da sind einige und dort drüben auch; und da meinte ich, sie wären von Euch gezogen worden, obgleich sie tatsächlich nur ganz kümmerlich aufwachsen.«
»Sie wachsen, wie es der Himmel will«, sagte der alte Mann; »und dieser befiehlt in seiner Güte, daß sie hier nie gedeihen sollen.«
»Ich verstehe Euch nicht.«
»Nun, das ist so«, versetzte der Totengräber. »Sie bezeichnen die Gräber derjenigen, die besonders zärtliche und liebevolle Verwandte und Freunde hatten.«
»Ich dachte mirs wohl!« rief Nell, »und es freut mich zu hören, daß ich mich nicht geirrt hatte.«
»Jawohl«, entgegnete der alte Mann, »aber hören Sie weiter. Blicken Sie einmal hin! Schauen Sie, wie sie ihre Köpfe hängen lassen und dahinwelken! Können Sie sich wohl den Grund denken?«
»Nein«, erwiderte das Kind.
»Weil das Andenken an diejenigen, die da unten liegen, so
schnell dahinschwindet.
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