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Der Raritätenladen

Der Raritätenladen

Titel: Der Raritätenladen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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oft gegen die leidenschaftlichste und feierlichste Aufforderung stumm und gefühllos bleiben und schließlich bei der leisesten, zufälligen Berührung erklingen. In den unempfindlichsten oder zerstreutesten Gemütern findet sich bisweilen ein Zug von Beschaulichkeit, den selten kunstmäßige Behandlung leiten oder Gewandtheit unterstützen kann, der aber, wie es oft bei großen Wahrheiten der Fall ist, sich
durch einen Zufall enthüllt, wenn man sich dessen am allerwenigsten versieht. Von jener Zeit an vergaß der alte Mann keinen Augenblick die Schwäche und Aufopferung des Kindes. Und jenem geringfügigen Umstande war es zuzuschreiben, daß er, der sie durch so viele Beschwerlichkeiten und Leiden an seiner Seite sich hatte durchkämpfen sehen und der in ihr nichts anderes erblickte als die Genossin des schrecklichen Elends, das er selbst so bitter an seinem eignen Leibe fühlte und um seinetwillen wenigstens ebensosehr beklagte als um ihretwillen, zu dem Bewußtsein erwachte, was er ihr eigentlich schuldete und was der viele Jammer aus ihr gemacht hatte. Niemals mehr – nein, nicht ein einziges Mal –, auch nicht in einem unbewachten Augenblick, von jener Zeit an bis zur letzten Stunde entfremdete irgendeine Sorge für sich selbst, ein Gedanke an seine eigene Behaglichkeit oder irgendeine sonstige selbstsüchtige Rücksicht seine Gedanken dem teuern Gegenstande seiner Liebe.
    Er pflegte ihr auf und ab zu folgen und wartete, bis sie müde war, damit sie sich auf seinen Arm stützen konnte; er setzte sich ihr gegenüber in die Kaminecke, zufrieden, sie beobachten und ansehen zu können, bis sie ihr Köpfchen erhob und ihm zulächelte wie in alten Tagen; er besorgte heimlich die häuslichen Arbeiten, die ihren Kräften zu schwer fielen, er stand sogar mitten in kalter dunkler Nacht auf, um die Schlafende atmen zu hören, und kauerte wohl stundenlang an ihrem Bett, bloß um ihre Hand berühren zu können. Nur der Allwissende war Zeuge der Hoffnungen, der Besorgnisse und der Gedanken inniger Liebe, die in diesem zerrütteten Gehirn wühlten, nur er kannte die Veränderung, die mit dem armen alten Manne vorgegangen war.
    Wochen waren inzwischen vergangen, und das Kind brachte bisweilen, erschöpft, obgleich von keiner sonderlichen An
strengung, ganze Abende auf einem Ruhebette neben dem Feuer zu. Bei solchen Gelegenheiten brachte der Schulmeister Bücher und las ihr vor; auch verging selten ein Abend, ohne daß der Bachelor zu Besuch kam und ihn abwechselnd in diesem Geschäft ablöste. Der alte Mann saß da und hörte zu – er verstand zwar kaum die Worte, verließ aber Nell mit keinem Auge –, und wenn sie lächelte oder wenn sich ihr Gesicht bei dem Gelesenen aufheiterte, so nannte er die Geschichte schön und gewann sogar eine Vorliebe für das Buch. Wenn bei den allabendlichen Plaudereien der Bachelor eine Geschichte erzählte, die ihr gefiel – was gewöhnlich der Fall war –, so gab sich der alte Mann alle Mühe, sie seinem Gedächtnis einzuprägen, und nicht selten, wenn sich der Bachelor entfernte, schlich er ihm nach und bat ihn demütig, er möchte ihm irgendeinen Teil derselben noch einmal erzählen, damit auch er es lerne, Nell ein Lächeln abzugewinnen.
    Dies waren jedoch zum Glück nur seltene Stunden, denn Nell sehnte sich ins Freie, um in ihrem feierlichen Garten spazierengehen zu können. Es kamen auch Gesellschaften, die die Kirche sehen wollten, und diese erzählten andern von dem Kinde, die dann auch kamen, so daß sie sogar um diese Zeit des Jahres fast täglich Besuche hatten. Der alte Mann folgte ihnen dann in kleiner Entfernung durch die öden Räume, horchte auf die Stimme, die er so sehr liebte, und wenn die Fremden sich von Nell verabschiedeten, so pflegte er heranzutreten, um einige Bruchstücke von ihrer Unterhaltung aufzufangen, oder er stellte sich in gleicher Absicht, das graue Haupt unbedeckt, an die Tür, durch welche sie gehen mußten. Sie lobten stets den Verstand und die Schönheit des Kindes, und er war stolz darauf, sie so sprechen zu hören. Aber was war es, was sie so oft hinzusetzten, was sein Herz zerriß und was ihn veranlaßte, in irgendeinen dunkeln Winkel zu schleichen und dort zu
schluchzen und zu weinen? Ach! Selbst gleichgültige Fremde, sie, die kein anderes Gefühl als das Interesse eines Augenblicks für sie hatten, sie, die fortgingen und in der nächsten Woche schon vergessen hatten, daß ein solches Wesen lebte: selbst sie sahen es, selbst sie hatten Mitleid

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