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Der Raritätenladen

Der Raritätenladen

Titel: Der Raritätenladen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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mit ihr, selbst sie boten ihm so teilnehmend einen guten Tag und flüsterten im Vorbeigehen.
    Auch unter den Einwohnern des Dorfes, die alle die arme Nell liebgewonnen hatten, herrschte das gleiche Gefühl, eine Zärtlichkeit, eine teilnehmende Rücksicht für sie, die sich mit jedem Tage mehrte. Sogar die leichtsinnigen und gedankenlosen Schulknaben kümmerten sich um sie. Selbst dem wildesten unter ihnen tat es leid, wenn er sie auf seinem Wege zur Schule nicht auf ihrem gewohnten Platze sah, und er ließ sich den Umweg nicht verdrießen, an ihrem Gitterfenster nach ihr zu fragen. Saß sie in der Kirche, so blickten sie vielleicht verstohlen zu der offenen Tür herein, aber sie redeten sie nicht an, wenn sie nicht aufstand und auf sie zukam, um mit ihnen zu sprechen. Alle fühlten es, daß Nell hoch über ihnen stände.
    So auch sonntags. Es gab in der Kirche nichts als arme Landleute, denn das Schloß, in dem die alte Familie gelebt hatte, war eine leere Ruine, und auf sieben Meilen im Umkreise lebten nur arme Häusler. Auch hier, wie überall, weckte Nell Teilnahme. Man sammelte sich vor und nach dem Gottesdienst um sie bei dem Portale; kleine Kinder klammerten sich an ihren Rock, und alte Männer und Weiber vergaßen ihr Geplauder, um sie freundlich zu begrüßen. Niemand von ihnen, alt oder jung, ließ sichs einfallen, ohne ein liebevolles Wort an ihr vorbeizugehen. Viele, die drei oder vier Meilen weit herkamen, brachten ihr kleine Geschenke, und selbst die Ärmsten und Rauhesten hatten einen frommen Wunsch für sie.
    Sie hatte die Kinder, die sie bei ihrem ersten Friedhofsgang
auf den Gräbern spielen sah, aufgesucht. Eins von ihnen – der kleine Junge, der ihr von seinem Bruder erzählte – war ihr Liebling und Freund, und oft saß er neben ihr in der Kirche oder klomm mit ihr zu dem Turmkranze hinauf. Es war ihm eine Lust, wenn er ihr helfen konnte oder zu helfen vermeinte, und so wurden sie bald fast unzertrennliche Gefährten.
    Eines Tages, als Nell einsam auf ihrem alten Plätzchen saß und las, kam dieser Knabe mit Tränen in den Augen auf sie zugelaufen, und nachdem er sie einen Augenblick aus scheuer Entfernung angelegentlich betrachtet hatte, schlang er leidenschaftlich seine kleinen Arme um ihren Nacken.
    »Was hast du?« fragte Nell ihn beschwichtigend. »Was gibt es denn?«
    »Sie ists noch nicht!« rief der Knabe, sie noch inniger umarmend. »Nein, nein! Noch nicht!«
    Sie sah ihn verwundert an, strich ihm das Haar aus dem Gesicht, küßte ihn und fragte, was er damit sagen wolle.
    »Nein, du sollst keiner sein, liebe Nell!« rief der Knabe. »Wir können sie nicht sehen. Sie kommen nie, um mit uns zu plaudern oder zu spielen. Bleibe, was du bist! Es ist so besser.«
    »Ich verstehe dich nicht«, versetzte Nell. »Sage mir, was du meinst!«
    »Nun«, entgegnete der Knabe, indem er ihr ins Gesicht sah, »sie sagen, du würdest ein Engel sein, ehe die Vögel wieder singen. Aber gelt, das willst du nicht? Es ist zwar schön im Himmel, aber du mußt uns nicht verlassen! Verlaß uns, bitte, nicht!«
    Nell senkte das Haupt und hielt die Hände vor ihr Antlitz.
    »Nein, sie mag gar nicht daran denken!« rief der Knabe, durch seine Tränen jubelnd. »Du willst nicht gehen. Du weißt, wie weh es uns tun würde. Liebe Nell, sage mir, du willst bei uns bleiben. O bitte, bitte, versprich mir das!«
    Das kleine Wesen faltete seine Händchen und kniete zu ihren Füßen nieder.
    »Sieh mich nur an, Nell«, sagte der Knabe, »und sage mir, daß du bleiben willst. Ich werde dann wissen, daß sie unrecht haben, und will nicht mehr weinen. Magst du denn nicht ja sagen, Nell?«
    Nell senkte das Haupt, bedeckte ihr Antlitz und blieb stumm, nur von einem leisen Schluchzen durchschüttert.
    »Später einmal«, fuhr der Knabe fort, indem er versuchte, ihr die Hand wegzuziehen, »später einmal werden die lieben Engel froh sein, wenn sie denken, daß du nicht unter ihnen, sondern hier bei uns geblieben bist. Willy ist auch bei ihnen; aber wenn er gewußt hätte, wie ich ihn nachts in unserm kleinen Bette vermissen würde, so hätte er mich gewiß nicht verlassen.«
    Noch immer konnte Nell nicht antworten und schluchzte fort, als ob ihr das Herz brechen müßte.
    »Warum solltest du denn gehen wollen, liebe Nell? Ich weiß, du würdest nicht glücklich sein, wenn du hörtest, daß wir um dich weinen. Sie sagen, daß Willy jetzt im Himmel ist, und daß dort ewiger Sommer ist. Und doch weiß ich gewiß, es tut ihm leid,

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